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Wenn Kinder den Krieg vergessen ...

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Acht Frauen aus Bosnien, die in der niederösterreichischen Gemeinde Wollersdorf Zuflucht gefunden haben, versuchen ihren Kindern ein „normales" Leben jenseits der Kriegshölle zu ermöglichen. Im örtlichen Wirtshaus herrscht angesichts der Flüchtlinge ahnungslose Gleichgültigkeit.

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Acht Frauen aus Bosnien, die in der niederösterreichischen Gemeinde Wollersdorf Zuflucht gefunden haben, versuchen ihren Kindern ein „normales" Leben jenseits der Kriegshölle zu ermöglichen. Im örtlichen Wirtshaus herrscht angesichts der Flüchtlinge ahnungslose Gleichgültigkeit.

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Unter großen, schattenspendenden Kastanienbäumen tollen Kinder im Garten umher. Mit Gejohle zeigen sie ihre Künste im Purzelbaumschlagen und Weitspringen. Ihre Sprache ist Serbokroatisch, und man könnte meinen, dem ausgelassenen Spiel kleiner Gastarbeiterkinder zu folgen, die sich trotz der Sommerhitze austoben. Doch der Schein der Idylle trügt, wenn man die sorgenvollen Gesichter ihrer Mütter beobachtet und deren erschütternde Erzählungen hört.

Azgmina ist eine der Freuen, die im Wöllersdorfer Kloster, das gemeinsam von Steyler Missionsschwestern und Pfarrangehörigen betreut wird, einen Platz gefunden haben. Sie spricht fast nichts. Azgmina ist die einzige, die weiß, daß ihr Mann tot ist. Alle anderen Frauen leben in Ungewißheit.

Immer wieder streifen ihre verzweifelten Blicke den Besucher, ihre wäßrigen Augen, wenn sie Fotos aus der Vergangenheit herzeigen. „Mein Mann -", deutet Hasi-ja auf ein Erstkommunionbild. Langsam schüttelt sie

den Kopf: Sie weiß nicht, ob ihre beiden Kindern, die jüngsten im Flüchtlingshaus, den Vater jemals wiedersehen werden.

Mit zitternder Stimme liest die 22jährige Dzenana aus ihrem Tagebuch vor. Sie hat gerade die Seite des 6. April 1992 aufgeschlagen, jenen Tag, an dem serbische Soldaten in ihrer Heimatstadt Zvornik einmarschierten. Ihre Eltern wurden von den Soldaten mit Maschinenpistolen bedroht, sie mußten sich an der Mauer ihres Hauses aufstellen und es anschließend binnen kürzester Zeit räumen. Erträglicher sei es für sie noch, sagt Dzenana, wenn ihr Haus niedergebrannt wäre, als zu wissen, daß jetzt Serben darin wohnen.

Der Großteil der Wöllersdorfer ist den neuen Mitbewohnern gegenüber sehr positiv eingestellt. Immer wieder werden Lebensmittel und Kleidung vorbeigebracht, und ein spezielles Deutsch-Lehrprogramm ist bereits entwickelt worden. In der Pfarre macht die Flüchtlingsnot erfinderisch: Um jedem einzelnen „Taschengeld" zu garantieren, wird be/m nächsten Pfarrcafe Selbstgemachtes der bosnischen Frauen angeboten, dessen Erlös ihnen selbst zugute kommt.

Doch Ordensschwester Maria Theresia weiß, daß es auch negatives Echo über die Flüchtlinge gibt - und es diesen sogar bewußt ist: „Sie wissen, daß die Leute schnell negativ über sie reden könnten."

Im Dorfgasthaus wissen die Stammgäste tatsächlich gar nicht einmal, wie viele oder ob überhaupt Flüchtlinge untergebracht sind: „Fragen S' den Wirten..." Aber auch dieser ist nicht allzu genau informiert. An der Theke entsteht eine angeregte Debatte über die Zahl der Bosnier. Angesichts der Menge der geleerten Bierkrügeln schwanken die Angaben mit Achselzucken zwischen acht und 15. Wesentlich weniger gleichgültig scheint den Gasthausbesuchern zu sein, welche Kosten ihnen durch Flüchtlinge erwachsen könnten. Einige sind sogar überzeugt, als Dorfbewohner für die monatlichen 1.500 Schilling pro Flüchtling aufkommen zu müssen. Den Jüngsten unter der Kinderschar, einen vierjährigen Knirps mit dem Namen Elvis, behelligen diese Dinge überhaupt nicht. Am Verhalten des kleinen Buben läßt auch nichts erahnen, daß seine Muttermit ihm aus einem Kriegsgebiet fliehen mußte, daß er etwa seinen Vater vermissen würde. Völlig arglos spielte er gleich nach seiner Ankunft mit Bauklötzen, und auch beim Vorführen von Purzelbäumen ist er zwar noch der Ungeschickteste, aber um keinen Deut Zaghafteste.

Unter den Missionsschwestern fragt man sich, ob die Kinder wirklich unbeschadet dem Krieg entkommen sind oder ob das Erlebte nicht eines Tages wieder „emporkommt".

Allein die behutsame Gegenwart ihrer Mütter - so ist man überzeugt - wird es den Kindern vielleicht ermöglichen, vergessen zu lernen.

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