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Wer anders denkt, ist „schizophren"

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Mißbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke - in totalitär regierten Staaten war und ist das traurige Realität. Was haben österreichische Psychiater dazu zu sagen?

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Mißbrauch der Psychiatrie für politische Zwecke - in totalitär regierten Staaten war und ist das traurige Realität. Was haben österreichische Psychiater dazu zu sagen?

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Eine Gruppe Intellektueller in Jugoslawien protestiert gegen den Mißbrauch der Psychiatrie durch die Justiz. In der Tschechoslowakei wird der Dissident und Katholik Augustin Navratil wegen Regimekritik und Ausüben seiner Religion in eine psychiatrische Klinik eingeliefert. Das sind zwei kurze Meldungen, die in den letzten Tagen in Nachrichtensendungen des Rundfunks gebracht wurden.

Mißbrauch der Psychiatrie — ein Faktum, das von offiziellen Stellen der Sowjetunion und anderer Staaten mit totalitären Re-

gimen zwar immer heftigst bestritten wird, das aber, liest man Berichte von Emigranten oder der Gefangenenhilfeorganisation „Amnesty international", noch immer traurige Realität ist.

Der russische Regime-Kritiker Wladimir Bukowskij, der über ein Jahrzehnt in Arbeitslagern und Irrenhäusern zugebracht hat, beschrieb die katastrophalen Zustände: miserable räumliche Verhältnisse, unqualifizierte Betreuung, Mißbrauch von Medikamenten, Folter. Bukowskij wurde schließlich gegen einen in Chile inhaftierten KP-Chef ausgetauscht und durfte ausreisen.

Viele seiner Kollegen sind noch immer nur aufgrund ihrer Uberzeugung in psychiatrischen Sonderanstalten interniert. Die Diagnose, die in den meisten Fällen zur Einweisung führt: „Schizophrenie".

„Allerdings haben die Russen eine sehr merkwürdige Definition der Schizophrenie", erklärt der Wiener Psychiater Hans Strotzka (Vorstand des Instituts für Tiefenpsychologie der Universität Wien). „Jemand, der sich nicht an die herrschende politische Realität anpassen kann, muß, so sehen es die Sowjets, geisteskrank sein." Der Psychiater Erwin Ringel (Vorstand des Instituts für Medizinische Psychologie der Universität Wien) beschreibt die Situation so: „Die Russen sagen: .Wenn einer anders denkt als wir, dann weicht er von der Wirklichkeit ab. Das heißt, er muß doch sehen, daß hier alle kommunistisch sind. Wenn er daher nicht kommunistisch ist, ist er geisteskrank.' Das Heüungsziel in den Irrenanstalten ist es, die Menschen soweit zu bringen, daß sie sagen: ,Ich bin wieder ein guter Kommunist.' Das ist natürlich ein Mißbrauch der Psychiatrie."

Aufgrund der Diagnose „Schizophrenie" wurden laut Berichten von „Amnesty international" in den Jahren 1969 bis 1983 mehr als 300 Fälle bekannt, in denen Menschen in der UdSSR aus politischen und nicht rein medizinischen Gründen zwangsweise in Irrenhäuser gesperrt wurden. In allen Fällen, so „Amnesty international", waren die Menschen eingewiesen worden, nachdem sie auf friedliche Art und Weise versucht hatten, bürgerliche und politische Rechte in einer den Behörden mißliebigen Form auszuüben.

Allerdings bleibt der Mißbrauch der Psychiatrie nicht auf die Sowjetunion oder den Ostblock beschränkt. „In nahezu jedem totalitären Regime muß man mit solchen Praktiken rechnen", sieht der Psychiater Willibald Sluga dieses Problem weltweit.

Und Strotzka ergänzt: „Erst eine funktionierende Demokratie

ist ein Garant für eine gute Medizin und Psychiatrie. Uberall, wo Macht im Spiel ist, kann es zu einem Mißbrauch in diesen Bereichen kommen."

„Amnesty international" stützt sich auf offiziell veröffentlichtes Material. Informationen über Gerichtsverfahren gegen Dissidenten oder die Bedingungen in Lagern, Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten stammen aus Berichten von Gefangenen, ihrer Angehörigen und Freunde.

Für Psychiater aus dem Westen ist es praktisch unmöglich, sich selbst über die Methoden, die ihre Kollegen im Osten praktizieren, zu informieren. Mitgliedern offizieller Delegationen, die durch die Sowjetunion geführt wurden, wurde der Blick hinter die Kulissen mit allen Mitteln verwehrt, wie Willibald Sluga aus eigener Erfahrung weiß.

Aus Berichten ist aber bekannt: Außer der Stellung falscher Diagnosen werden dort gesunde Menschen zwangsweise mit Medikamenten behandelt, die hier bei Kranken angewendet werden. Zusätzlich werden gesundheitsschädliche Dosen verabreicht ohne Rücksicht auf Nebenwirkungen. Die Folge: schwere körperliche Schäden.

In breiten Kreisen österreichischer Psychiater ist man aber trotz massiver Ablehnung dieser Methoden nicht dafür, durch endgültige Verurteilung alle Brücken abzubrechen.

Die Stellungnahmen heimischer Seelenärzte sind im allgemeinen eher zurückhaltend. Hans

Strotzka: „Wir haben die moralische Pflicht, im Rahmen internationaler Kontakte etwas dagegen zu unternehmen. Aber ich kann daraus kein Recht ableiten, die Kollegen persönlich dafür zu verurteilen. Denn auch die Ärzte stehen in kommunistischen Systemen unter enormem Druck."

Entscheidend ist es, trotz allem, die Basis für Kontakte, wenn auch in relativ geringem Maße, zu erhalten. Diesen Punkt hält auch Erwin Ringel im Rahmen dieser Problematik für den wichtigsten: „Natürlich verurteile ich den Mißbrauch der Psychiatrie, aber ich bin trotzdem dafür, die Gesprächsbasis zwischen Ost und West bis zum letzten zu erhalten. Denn ein völliger Kontaktabbruch kann nur zu einer Verschlimmerung der Situation — für die Menschen dort — führen."

Auf internationaler Ebene sind

die Kontakte allerdings merklich zurückgegangen. Bereits beim VI. Weltkongreß für Psychiatrie 1977 wurden eine „Ethikkommission" und eine „Kommission zur Untersuchung des Mißbrauchs der Psychiatrie" mit der Aufgabe betraut, die diesbezüglichen Probleme zu untersuchen und darüber zu berichten.

Der VII. Weltkongreß 1983 in Wien fand bereits ohne die Teilnahme der Sowjets statt. Der moralische Druck — vor allem von den Amerikanern angeheizt - war schließlich so stark gewesen, daß der Verband der russischen Psychiater auf eine Teilnahme verzichtete und aus dem Weltverband austrat, um sich dem befürchteten „Gericht" nicht auszusetzen.

Viel Staub aufgewirbelt hat erst kürzlich die Verleihung des Friedensnobelpreises 1985 an die „Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges". Im Namen ihrer Organisation übernahmen nämlich der amerikanische Mediziner Bernard Löwin und sein sowjetischer Kollege Jewgenij Tschasow den Preis. Tschasow aber war ins Zwielicht geraten, da er 1973 an einer Kampagne gegen Andrej Sacharow beteiligt war und auch kritische Fragen zum Thema Psychiatrie in der Sowjetunion für westliche Ohren unbefriedigend abgeblockt hatte.

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