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Wer bezahlt den nächsten Wettlauf?

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Der erste Mann im Kreml ist 1974 — trotz Schwächeanfall und Ärztekonzilium — das eigentliche Kontinuum der Weltpolitik gewesen. Breschrtjew hat, aus welchen Gründen auch immer, seine wichtigsten Gegenspieler auf dem Parkett der Weltdiplomatie überdauert. Mit einer Ausnahme: die beiden Altväter der chinesischen \?& iruttg, Mao und Tschu, wobei unklar bleibt, wieweit diese nur mehr eine repräsentative Rolle spielen. Breschnjews Widerpart, der die Tür zu einer neuen Rollenverteilung nach dem System gegenseitiger Abhängigkeit aufstieß, Richard Nixon, stürzte über sich Selbst. Pompidou, auf dessen eigenwillige Position der Kreml gerne setzte, starb. Brandt, Heath, Tanaka und Goldą Meir wurden Opfer ihrer eigenen Politik. ,

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Der erste Mann im Kreml ist 1974 — trotz Schwächeanfall und Ärztekonzilium — das eigentliche Kontinuum der Weltpolitik gewesen. Breschrtjew hat, aus welchen Gründen auch immer, seine wichtigsten Gegenspieler auf dem Parkett der Weltdiplomatie überdauert. Mit einer Ausnahme: die beiden Altväter der chinesischen \?& iruttg, Mao und Tschu, wobei unklar bleibt, wieweit diese nur mehr eine repräsentative Rolle spielen. Breschnjews Widerpart, der die Tür zu einer neuen Rollenverteilung nach dem System gegenseitiger Abhängigkeit aufstieß, Richard Nixon, stürzte über sich Selbst. Pompidou, auf dessen eigenwillige Position der Kreml gerne setzte, starb. Brandt, Heath, Tanaka und Goldą Meir wurden Opfer ihrer eigenen Politik. ,

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Was Ford aus Wladiwostok und jetzt aus Martinique heimbrachte, war weniger ein Stück Weltpolitik, als der vordergründige Prestigegewinn eines Mannes, der unter Erfolgszwang steht. Ford befand sich damit in einer ähnlichen Situation wie sein Vorgänger Nixon beim Abschluß der ersten SALT-Vereinba- rung in Moskau. Wenn Kissinger, dem bei der Konstruktion des nuklearen Gleichgewichts noch immer eine wichtigere Rolle zukommt als seinem internen Widerpart Schlesinger, damals in Moskau meinte, beide Seiten hätten nun ihre militärischen Establishments zu überzeugen, daß auch eine Beschränkung Vorteile habe, gilt dies wohl in erster Linie für Breschnjew.

Ford drängt die Präsidentenkampagne 76, die bereits ihre ersten Schatten wirft, in die rettenden Arme eines Agreements mit Moskau. Profiliert sich doch im demokratischen Lager als einer der vermutlich potentesten Widersacher Fords um die Präsidentschaft jener Senator Jackson, der bereits in der Nixon-Ära zu den geißelndsten Kritikern der bisherigen SALT-Ergeb- nisse zählte.

Seit den technischen Fortschritten, die die Sowjets beim Bau jener nuklearen Sprengköpfe machten, die allgemein unter dem Kürzel MIRV laufen und bisher Amerikas Vormachtstellung im atomaren Wettstreit sichern sollten, ist der SALT- I-Vertrag für Jackson das Eingeständnis einer politischen Niederlage der USA. Diesen üblen Geruch aus dem bevorstehenden Wahlkampf zu bannen, mußte Fords Hauptanliegen sein.

So hat denn die Vorvereinbarung von Wladiwostok mit Abrüstung im Sinne eines Abbaues oder gar der Zerstörung von Trägerwaffen und Sprengköpfen nichts zu tun. Es ist nur der Versuch, eine paritätische Höchstgrenze festzulegen, die für die nächsten zehn Jahre gelten soll. Innerhalb dieser Grenzen können die Weltmächte allerdings die technische Waffenentwicklung und Vervollkommnung nahezu unbegrenzt weiterbetreiben.

Und für Ford stellt sich die Frage, wer den neuen Rüstungswettlauf bezahlen soll. Doch lassen sich Ausgaben für die Garantie einer amerikanischen Vormachtstellung leichter verkaufen als der Vorwurf, man überlasse den Sowjets kampflos das Feld.

Trotzdem mag sich eine Umkehrung gewohnter Verhältnisse abzeichnen: Bislang konnten die USA sicher sein, bei einem ungehemmten Rüstungswettlauf sowohl qualitativ wie auch quantitativ höhere Rüstungszuwächse zu verzeichnen als die Sowjets. Dem muß nicht unbedingt länger so sein. Während im Westen die wirtschaftliche Entwicklung Rüstungsexpansionen immer engere Grenzen setzt, kann Breschnjew seinem Volk ohne weiteres weitere Konsum-Sparsamkeit auferlegen, ohne innenpolitische Konsequenzen fürchten zu müssen. Die Opposition der Militärs ist die einzige emstzunehmende Opposition, mit der er zu rechnen hat, und die stehen in dieser Frage sicher auf seiner Seite.

Beide Seiten haben sich für das Jahr 1985 die obere Grenze von 2400 Trägerwaffen gesetzt. Sie teilen sich auf die landgestützten Interkontinentalraketen, die von getauchten Atom-Unterseebooten abzufeuemden Lenkwaffen und die durch die strategischen Bomberflotten transportierten Sprengköpfe auf. Dabei mag Moskaus Einlenken von einer Demonstration ausgelöst worden sein, die mit Kissingers letzter Mission „rein zufällig“ zusammentraf: näm lich dem erfolgreichen Abschußversuch einer amerikanischen Interkontinentalrakete aus einem Düsentransportflugzeug und dem damit verbundenen Beweis, daß die Vereinigten Staaten neue Pfeile in ihrem atomaren Köcher besitzen.

Optisch zwingt der derzeitige Stand von 2375 sowjetischen Trägerwaffen gegenüber 2206 der USA die Sowjets zu einem Kurztreten. Anders sieht die Situation bei den Mehrfachsprengköpfen aus. Hier sind die Sowjets noch nicht über das Teststadium hinausgekommen und besitzen daher offiziell noch keine MIRV-Köpfe. Die künftige Obergrenze von 1200 Sprengkörpern können sie daher voll nützen, während die USA bereits mehr als die Hälfte — 750 — produziert haben. Das Abkommen läßt allerdings die technische Vervollkommnung der Todesfracht offen.

Streitobjekt aller bisherigen SAL- Gespräche war aber auch, daß die Abschreckungskraft der westlichen Verteidigungsorganisation der NATO nicht unwesentlich auf den in Europa stationierten Atomwaffen aufgebaut ist. Ihrer Kapazität nach kommt ihnen zwar kein strategischer, sondern operativer Wert zu, ihr beweglicher Einsatz durch Flugzeuge erhöht aber den Abschreckungseffekt. Moskaus Drängen, diese unmittelbar gegen den Vorfeldgürtel des Ostens gerichtete Speerspitze loszuwerden, widerstanden bisher die Vereinigten Staaten. Der Preis, den die USA zahlten, um auch in Zukunft diesen Problemkreis den Wiener Truppenabbaugesprächen vorzubehalten, dürfte in einer freiwilligen Verringerung dieser Sprengköpfe liegen.

Sollten die Gerüchte vom angegriffenen Gesundheitszustand Bresch- njews stichhältig sein, wäre mit neuen und erheblichen weltpolitischen Unsicherheitsfaktoren zu rechnen. Denn Breschnjew war und ist ein Diktator im Inneren, aber als Mann einer Außenpolitik auf Nummer Sicher durchaus ein ernstzunehmender Gesprächspartner für den fast, aber noch lange nicht völlig gestrandeten Architekten eines stabilen Mächtegleichgewichts, Kissinger. Doch die Nachfolgefrage dürfte bisher mit einem Tabu belegt gewesen sein, was im Fall einer Entmachtung Breschnjews nur einen Terraingewinn der Militärs zur Folge haben könnte.

Breschnjews Besuch in Paris war ja bereits der erste Schritt, nach dem big bargain wieder die europäische Karte zu spielen. Sein Interesse mußte daher in ‘erster Linie Frankreich gelten, das allen europäischen Zielen des Kremls eher skeptisch gegenübersteht. Im großen Konzert der Weltpolitik war diese Reise allerdings nur eine Stimme.

Zu deutlich zeigte der Pariser Europagipfel, wo die Sorgen der Europäer liegen. Sicher nicht bei der Weltpolitik. Diese überlassen sie selbst hinsichtlich europäischer Probleme lieber den Großen.

Und Giscards Treffen mit Ford mag den Kreis schließen — daß mit den Sowjets in den wirklich entscheidenden Fragen nach wie vor das Weiße Haus spricht.

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