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Wer erfand den roten Terror?

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„Man macht keine Revolution mit Schonung, sondern mit wilder,unbeugsamer Härte.“ Louis Antolne de Saint-Just, Konventskommissar während der Französischen Revolution und Anwalt der Grande Terreur 1794 „Die Revolution ist kein Bildermalen oder Deckensticken.“ Chinesische Kulturrevolutionäre 1971

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„Man macht keine Revolution mit Schonung, sondern mit wilder,unbeugsamer Härte.“ Louis Antolne de Saint-Just, Konventskommissar während der Französischen Revolution und Anwalt der Grande Terreur 1794 „Die Revolution ist kein Bildermalen oder Deckensticken.“ Chinesische Kulturrevolutionäre 1971

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Stalin erfand nicht den Stalinismus. Und die sogenannten Entstali-nisierung machte dem Roten Terror kein Ende. Denn: Feinden gegenüber wird die Methode der Diktatur angewandt. Der Satz stammt vom Mao Tse-tung, Stalinist trotz Entstalini-sierung, und er gebrauchte ihn als Drohung gegen ungarische Aufständische von 1956. Was damals im Falle Maos marxistisches Imponiergehabe war, erwies sich für den Sowjetimperialismus als titulus Justus für seine Invasion in Ungarn. Nie hat der westliche Liberalismus Kaiser Franz Joseph verziehen, daß er 1849 die militärische Intervention Rußlands gegen aufständige Magyaren ausnützte; aber die heutige freie Welt des Westens vergißt nur zu gern die Wiederholung dieser russischen Invasion in Ungarn von 1956, weil derlei „emotionale Erinnerungen“ die Realpolitik des sozialistisch-liberali-stischen Westens stören. Und die junge Erfolgsgeneration des Westens hat zwar lange Haare — aber kurzen Verstand: sie plappert die Phrase vom Tauwetter der fünfziger Jahre nach und vergißt, daß Chruschtschow im Februar 1956 Stalin auf dem XX. Parteitag der KPdSU verdammt und im November desselben Jahres Ungarn nach stalinistischen Methoden niedergeworfen hat. Die Neue Linke der sechziger Jahre, heute längst in Führungsgremien sozialistischer, liberaler, christlicher und sonstiger Parteien oder Kirchen vertreten, hatte keine Freude mit dem Image, das der Sozialismus durch Stalin bekommen hatte. Was lag ihren Theoretikern daher näher, als den Stalinismus als eine „zufällige“ Entartung des Marxismus hinzustellen. Jene Zukunft, die nach Vorhersage des Parteigängers der Neuen Linken, Robert Jungk, schon begonnen hat, sollte nach Ansicht der Neuen Linken nichts vom Stalinismus an sich haben. Um das Image eines „humanen Kommunismus“ hinzukriegen, griff die Neue Linke auf vorstalinistische Autoritäten des Marxismus zurück. Dieser Regreß sollte indessen üble Folgen haben. Denn: indem die Neue Linke bei ihrem Versuch einer Selbstreinigung des Marxismus Regreß übte, lenkte sie die Aufmerksamkeit ungewollt auf die in der Ära Lenins geübten Terrormethoden.

Die Analyse der Terrormethoden der Ära Stalins ergab um 1970 die an sich längst bekannte Tatsache, daß diese Methoden bereits in der Ära Lenins (1917—1924) sowie nach Lenins Tod in der Ubergangszeit unter Trotzki, Sinowjew und Kame-new praktiziert worden sind. Damals, als sich Stalin noch ein wenig im Hintergrund hielt und die Sowjetmacht noch nicht auf die jüdische Intelligenz verzichten konnte, die laut Aussage einer sowjetischen Expertin von 1971 nunmehr schon entbehrlich ist.

Leonhard Schapiro, in der freien Welt als gründlicher Kenner des Bolschewismus geschätzt, sieht in Stalin nicht einen „abgefallenen Lenin“, sondern „den zur Vollendung gebrachten Lenin“ (London, 1959). Und nicht nur Lenins Bild als Vorläufer eines sogenannten humanen Kommunismus wurde neuerdings verwackelt. Es ließ sich bald auch nicht länger leugnen, daß der „von den Schergen Stalins ermordete“ Trotzki kein „Märtyrer eines reinen Sozialismus“ gewesen ist, sondern ein handfester Terrorist. Trotzki, der nach 1918 als Kommissar für den Krieg in der Ära des Kriegskommunismus ohne gerichtliche Verfahren oder standrechtliche Formalitäten mehr Menschen ermorden ließ,als Stalin mit seiner Pseudo-Recht-sprechung liquidieren konnte. Was für Saint-Just 1794 ein Anfang war, das erreichte in der Ära Lenin-Trotzki seine Vollendung.

Wir vergessen alles, schreibt Solschenizyn in „Archipel Gulag“, erschienen 1974 und in der freien Welt bereits als „Geschichte, die schon Vergangenheit ist und die uns langweilt“ abgewertet. Sicher ist es für Marxisten aller Richtungen unerwünscht, daß Solschenizyn daran erinnert, daß schon 1918, also unter Lenin, jene Zeiten begonnen haben, in denen „der Revolver der Vergeltung nicht nur als Zierde getragen wurde“. Solche Erinnerungen könnten Anlaß zu dem Memento sein, daß 1974 die Vietkongs ihre Schußwaffen gegen Feinde der „Vereinigung Vietnams“ nicht nur als Zierde zur Schau tragen.

In einer 1920 in Moskau erschienenen Übersicht über die Tätigkeit der Gestapo Lenins, der Tscheka, wird unter anderem herausgestrichen, daß zwischen 1918 und März 1919 allein in den Gouvernements von Zentralrußland 87.000 Verhaftungen und 8389 Liquidierungen ohne Gerichtsbeschluß vorgenommen worden sind. Um 1920 war der Leninismus noch stolz auf solche Erfolgsausweise, und die fragliche Ubersicht vermerkt daher, daß „die genannten Zahlen absolut nicht vollständig sind“.

Einmal haben russische Linksintellektuelle eine Liste all derer zusammengestellt, die zwischen 1828 und 1907 unter dem Zarismus als politische Verbrecher hingerichtet wurden. Aus dieser Namensliste geht hervor, daß in 80 Jahren des Zarismus 3419 Menschen Opfer ihrer revolutionären Gesinnung geworden sind. Zum Unterschied davon wurden, allein in den ersten anderthalb Jahren der Großen Oktoberrevolution von 1917, und nur auf einen kleinen Teil Rußlands berechnet, 8389 „Klassenfeinde“ liquidiert. Das ist Klassenkampf.

Es war Lenin, der sogleich nach seinem Sieg in der Oktoberrevolution namens des Sownarkoms den Befehl gab, eine „besondere Truppe zuverlässiger Männer zu organisieren“. Diese Zuverlässigen hatten gegen bloß „verdächtige Personen“ einen „unbarmherzigen Terror“ auszuüben und diese Feinde in Konzentrationslagern „außerhalb der Stadt“ festzusetzen. Lenin war es mit der Durchführung der Order ernst. Denn er befahl: „Drahtet über Ausführung dieses Befehls.“ Schon vor seinem Sieg in der Oktoberrevolution hatte Lenin aus seinem damaligen finnländischen Exil zum Haß aufgerufen. Und Haß ist bis heute die Treibladung des Roten Terrors. 40 Jahre nach dem Tode Lenins wollte Che Guevara „ein zweites, drittes, viele Vietnams schaffen“. Dafür rief er zu jenem Haß auf, der „den Menschen über natürliche Grenzen hinaustreibt und ihn in eine wirksame, selektive und kalte Tötungsmaschine verwandelt“ (Che Guevara in seinem Brief an das Exekutivsekretariat von OSPAAL, Berlin 1967, S. 14).

Und wieder eine unerwünschte Erinnerung: Wir erinnern uns, daß katholische Jugend und Hochschuljugend hinter den Bildern Che Guevaras, Trotzkis und Lenins ein-hermarschierte und daß in katholischen Hochschülerheimen und Zeitschriften die Bilder dieser Experten des Hasses, des Terrors und des Mordens zur Schau gestellt oder abgedruckt waren; ohne daß geistliche Konsulenten bei der geschichtlichen Wahrheit geblieben wären.

Die Pleite der Partei Lenins bei der ersten und einzigen freien Wahl während des Sowjetregimes im Jahre 1918 (nur 175 von 707 Sitzen für die Partei Lenins in der Konstituierenden Nationalversammlung war für Rosa Luxemburg eine Lehre. Sie und Karl Liebknecht, mit dem sie anfangs 1919 die KPD ins Leben rief, gingen dem Sichtbarwerden ihrer Mini-Minorität im Deutschen Reich aus dem Weg, und ihre KPD forderte daher zur Wahlenthaltung anläßlich der für den 19. Jänner 1919 anberaumten Wahl einer Konstituierenden Nationalversammlung der Weimarer Republik auf. Anstatt zu wählen, ging die KPD rechtzeitig vor der Wahl in Berlin auf die Straße; sie besetzte Redaktionen und Verlage, damals alleinige Träger von Massenmedien; sie trat „mit einer Armee von 200.000 Mann, wie sie kein Ludendorff gesehen hat“ in das sogenannte letzte Gefecht; und sie erklärte die Reichsregierung vom November 1918 für abgesetzt, um ihrem „Revolutionsausschuß“ mit Karl Liebknecht und Genossen an der Spitze Platz zu machen zur „Führung der Regierungsgeschäfte“. Fast schien' es, als würden die „konsequent handelnden Deutschen“ auf Anhieb besser zuschlagen als die alten Berufsrevolutionäre in der „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands“, die sich fatalerweise doch auf eine riskante Wahl eingelassen hatten. Was aber die Männer der KPD von 1919 noch nicht hatten, das war das Know-how des Berufsrevolutionärs. Die deutsche Revolution von 1919 blieb ein Torso, quasi die „Große Unvollendete“ in den Augen eines Ernst Bloch, eines Herbert Marcuse und anderer Produkte des Liberalismus aus der Zeit des Bündnisses von Besitz und Bildung. Alt geworden, haben diese enttäuschten Parteigänger der Revolution von 1919 in den sechziger Jahren noch einmal versucht, zusammen mit Teilen einer Enkelgeneration die Revolution von 1919 zu vollenden und mit jener verdammten Vätergeneration, die 1919 die Revolution niedergekämpft hat, abzurechnen.

Wie lange muß man in der Geschichte der Sozialdemokratie zurückgehen, um dort auf den Wurzelboden des Roten Terrors zu stoßen? Man wird sehr weit, ja bis in die Ausgangslage dieser Bewegung gehen müssen. Aber nur wenige Modelle dieses Terrors sind so signifikant wie jenes, das die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands“ auf ihrem Parteitag von 1903 entwickelt hat. Damals beschloß die SDAPR ihr Parteiprogramm, das sie erst nach ihrem Sieg in der Oktoberrevolution, zusammen mit ihrem Namen, ändern sollte. In der Diskussion, die der Beschlußfassung über dieses historische Dokument des Sozialismus vorausging, kamen einzelnen Delegierten des Parteitags Bedenken. Sie meinten, die sogenannte „Diktatur des Proletariats“ könnte am Ende eine jener handfesten Diktaturen werden, die man zur Genüge kannte. Diesen vom Terror gebrannten Genossen fiel sofort Trotzki in die Parade: Die proletarische Diktatur werde, so betonte der spätere Experte des Terrors, immer eine „Herrschaft der Mehrheit“ sein. Das aber hinderte Plechanow, den großen Plechanow des russischen Sozialismus, gar nicht, den Fall aufzuzeigen, in dem sich für die Sozialdemokratie „Wahlen als ungünstig erweisen sollten“. Plechanow konnte sich dabei vorstellen, daß „wir, die Sozialdemokraten, uns gegen das allgemeine Wahlrecht aussprechen“. Schlimmstenfalls dürften Sozialdemokraten nicht zögern, ein auf Grund eines „ungünstigen Wahlergebnisses zustandegekommenes Parlament ... nicht erst nach zwei Jahren, sondern wenn möglich bereits nach zwei Wochen auseinanderzujagen“.

Plechanow war kein Bolschewik. Aber er erlebte stillschweigend, wie 1918 Bolschewiken in Rußland die nach ihrer Oktoberrevolution gewählte und „ungünstig“ besetzte Konstituierende Nationalversammlung auseinanderjagten. Denn für den Sozialismus ist Demokratie nur der Weg; ist das Ziel erreicht, dann ist für ihn Demokratie — in Grenzen — eine Methode parteiinterner Auseinandersetzungen.

In den jetzigen siebziger Jahren kamen sozialistische Regierungen in Schweden, Dänemark, Großbritannien, Deutschland und Österreich zustande, obwohl die sozialistischen Parteien dieser Länder anfangs nur eine Minderheit im Parlament stellen konnten. Und die heutige Sozialistische Internationale hat Teilnehmer „mit bloßem Beobachterstatus“, deren Parteien zu Hause ein hartes Einparteienregime ausüben.

Modell Karl Marx Je gründlicher die Neue Linke mit Versuchen, festen ideologischen Boden

unter ihre Füße zu bekommen, Regreß in der Geschichte des Sozialismus übte, desto näher kam sie an Karl Marx heran. Für rote Terroristen von heute ist es am besten, die „moralische“ Stütze bei Marx, im Ei des Leviathans zu suchen. Schauprozesse, von der Großen Französischen Revolution bis heute die Regel in den Revolutionen der Linken, sind für Marx „Anwendung proletarischen Machtwillens“. An dieser Stelle wird die Eischale des Liberalismus sichtbar, die am Hinterende Marx' klebt. Die Animateure der Revolution von 1789 waren nämlich keine hungernden Proleten, sondern die Männer der Ersten Legion des Besitzbürgertums. Zu den gefährlichsten Utopien Marx' gehört es, den Großen Terror von 1793/94 als „die historisch letzte Form der Gewaltanwendung überhaupt“ hinzustellen. Gewiß, der Sohn des Trierer Justizrats konnte zu seiner Zeit nicht voraussehen, daß seine Epigonen Lenin, Trotzki, Stalin und so weiter die glühende Idee Saint-Justs in Schauprozessen, Massenliquidierungen und Konzentrationslagern im großen Stil weiterentwickeln sollten. Wer sich heute als Sozialist gegen Terror und Terrorismus als Prinzipien stellen möchte, erhebt Anklage gegen Marx. Terrormethoden sind im Marxismus seit Marx systembedingt. Weil Marx generalisiert: Die Anwendung der Gewalt „ist für einige Phasen der Revolution charakteristisch“, und die „gewaltsame Niederwerfung der Opposition ist ein Verfahren, das... im Hinblick auf die Gesamtziele der Weltgeschichte legitim ist“. So zieht Marx die Fluchtlinie zum Horizont Mao Tse-tungs. Denn der heutige maoistische Terror rechnet in den diversen Schüben seiner sogenannten Kulturrevolutionen mit Serien von Gewaltakten, die „nicht immer vorherzusehen sind“. Die aber von der Partei Maos geduldet werden, soferne nicht Staatseigentum in Gefahr gerät.

In die gleiche Kerbe schlug 1945 die KPÖ, als einer ihrer Sprecher in der damaligen Provisorischen Staatsregierung meinte, man könnte sich die gegen ehemalige Nazis in Gang gesetzte Gesetzesmaschinerie ersparen, würde man während „dreier Tage“ einer Säuberung des Landes von Spuren des Nazismus freien Lauf lassen. Ähnlich äußerte sich ein ausländischer prominenter Kommunist zum Verfasser dieser Zeilen über die seinerzeitigen Auseinanderse tzungen wegen des „Habsburgerproblems“ in Österreich. In Rußland gebe es seit 1919 kein Romanow-Problem. Und so wie die Revolutionäre von 1789 den großen Lavoisier als Konterrevolutionär umbrachten, weil die Revolution keine Chemiker brauche, schob Lenin die Intervention Maxim Gor-kis zugunsten des liberalen Großfürsten Nikolai Michailowitsch beiseite. Auf Historiker, wie der besagte Großfürst einer gewesen ist, konnte Lenin verzichten.

Während der heurigen Hamburger Bürgerschaftswahl ließ auch die dortige KPD ihre Werbesendung durch den Norddeutschen Rundfunk aussenden. Es ist nicht überraschend, daß diese Mini-Mini-Opposition die bevorstehende Wahl wörtlich als ein Mittel hinstellte, „die Notwendigkeit des bewaffneten Aufstandes zu propagieren“ und zu beweisen, daß „ein bürgerliches Parlament nichts anderes verdient, als durch revolutionären Kampf auseinandergejagt zu werden“. Bemerkenswerter ist schon der Umstand, daß die Sendeleitung zögerte, diese Werbesendung durchzugeben; schließlich, so meinte man, könnte einer kommen und verlangen, daß das Horst-Wessel-Lied im Rundfunk gespielt werde. Der springende Punkt bei dem Ganzen ist die Beschlußfassung des zuständigen Oberverwaltungsgerichts in der BRD, das von der KPD angerufen wurde, die ungehinderte und unzensierte Ausstrahlung ihres Aufrufs zum Bürgerkrieg durchzusetzen. Dabei erwies es sich nämlich, daß im sozialistisch-liberalistischen Rechtsstaat Deutschland die Justiz auf Draht ist. Sie bestätigte der KPD, daß der fragliche Werbespot selbstverständlich ungehindert und unzensiert ausgestrahlt werden müsse. Ein Verbotsverfahren oder eine Strafverfolgung würde erst dann in Frage kommen, wenn

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