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Wer erreicht den Fluß?

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Der „Revolutionär“ Hans Werner Henze hat sich wieder in die Schlacht geworfen. Nach linken Polit-Beschwörungen, wie er sie im „Versuch über Schweine“, in „Natascha Ungeheuer“, im „Floß der Medusa“ oder im „Cimarron“ versuchte, und nach seinem mißglückten Tingeltangel-Vaudeville „La Cubana“ nun sein neues großes Musikdrama „Wir erreichen den Fluß“.

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Der „Revolutionär“ Hans Werner Henze hat sich wieder in die Schlacht geworfen. Nach linken Polit-Beschwörungen, wie er sie im „Versuch über Schweine“, in „Natascha Ungeheuer“, im „Floß der Medusa“ oder im „Cimarron“ versuchte, und nach seinem mißglückten Tingeltangel-Vaudeville „La Cubana“ nun sein neues großes Musikdrama „Wir erreichen den Fluß“.

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Als Auftragswerk der Londoner Covent Garden Opera wurde es im Juli uraufgeführt und nun bei den Berliner Festwochen erstmals in der deutschen Fassung vorgestellt. Ein Revolutionsdrama der Vergeblichkeit, der Hoffnungslosigkeit, des Scheiterns auf allen Linien. Mit einem Schluß, wie er pessimistischer nicht sein könnte: Der Traum von Freiheit... eine Komödie der Irrungen, schlimmer noch — des Irreseins. Denn die einzigen, die hier ihrer vermeintlichen Befreiung entgegenwanken, sind geistig Kranke, Insassen eines Irrenhauses, die auf einem imaginären Boot entfliehen. Auf dem Fluß ihrer wirren Gedanken ...

Gemeinsam mit dem prominenten englischen Dramatiker Edward Bond („Early morning“, „Lear“) hat Henze das Libretto zu seinem neuen Stück erarbeitet. Aber einen großen Theaterwurf sind sie schuldig geblieben. Denn politisch Brisantes, das den Zuschauer provozieren könnte, ist nur andeutungsweise in der Kulisse vorhanden. Im Vordergrund rollt aber ein oberflächliches Spiel mit politischen Klischees und Affekten ab. Theater in Schwarzweiß, das keine Entwicklung spürbar macht, keine Motivationen für Figuren liefert, ohne feine psychologische Differenzierung auskommt. Wie reich an Spannungen, ja an unlösbaren Verstrebungen ist doch die politische Wirklichkeit, wie einschichtig vergleichsweise diese theatralische Fiktion, deren Kraftlosigkeit kaum zu übersehen ist: diese Ohnmacht den politischen. „Gegner“ also das staatskapitalistische Herrschaftssystem — nicht desavouieren und letztlich nicht treffen zu können.

Henze und Bond haben sich vorwiegend in politische Bilder gerettet. Wo schlaffe Handlungsfäden sich nicht mehr straffen ließen, werden Symbole, Rituale, Gesten benötigt. Eine große Landschaft musiktheatralischer Fragmente — das ist es auch, was diese Inszenierung Volker Schlöndorffs in der Deutschen Oper Berlin (Ausstattung: Martin Rupp-recht) vermittelt. „Handlungen für Musik“ haben Henze und Bond selbst ihr Stück genannt (und nicht etwa Oper). Und Versuche, auseinander-fallende, einander fliehende Relikte und Momente zusammenzuketten,spiegeln Inszenierung und Bühnenbild.

Auf drei Podien wird (oft sogar simultan) gespielt. Drei Kammermusikensembles sind dazwischen eingebaut. Mit spartanisch kargen Ausstattungselementen werden „Momente“ dieser Handlung angedeutet: in einem Sandhaufen verenden Soldaten, im Zelt des Gouverneurs baumelt ein Gehenkter, sparsame Glaswände markieren Sitzungs- und Festsäle, weiß gekachelte Baderäume das Innere des Irrenhauses. Versenkungen, Lichtkünste, der technische Apparat spielen reichlich mit — leider nicht immer so exakt, wie sich das gehörte. Aber das alles kittet nicht, was auseinanderstrebt.

Für die Handlung selbst hat Bond kräftig in seinem Laden gekramt, viele seiner Lieblingsideen wieder hervorgeholt. Speziell aus dem „Lear“. Das Thema: ein Kaiserreich, das in politischer Willkür versinkt. Revolution in den Provinzen. Ein General läßt einen Deserteur hinrichten und feiert seinen Sieg. Überraschend bekennt ihm sein Arzt, daß er an den Folgen einer früheren Verwundung erblinden werde. Das löst bei ihm einen politischen Schock aus. Er tritt plötzlich für Unterdrückte und Leidende ein, schmäht den Kaiser, versucht eine Frau vor der Erschießung zu retten. Der Gouverneur läßt ihn daraufhin verhaften, für wahnsinnig erklären und im Irrenhaus internieren. Doch die Politiker brauchen seinen ruhmbeladenen Namen. Der Kaiser wie die Revolutionäre wollen ihn für sich zurückgewinnen. Der General lehnt ab. In einer seltsamen Picknickszene spricht der Kaiser in Buddha-Gleichnissen von der Notwendigkeit, daß jeder Mensch tausend Taten vollbringen müsse: seine tausendste wird die Blendung des Generals sein. Gedungene Gangster stechen dem erblindenden Alten die Augen aus... Inzwischen arbeiten die Kranken des Irrenhauses besessen an ihren Ideen — ein imaginäres Schiff zu bauen, das sie in die Freiheit führen wird. Der General steht ihnen im Weg. Sie ersticken ihn in ihren Polstern. Nichts kann mehr ihren Weg zum Fluß hindern, um auf die erträumte Insel zu entfliehen.

•Henze hat sich zu diesem zweieinhalbstündigen Stück musikalisch nicht allzuviel und nicht viel Aufregendes einfallen lassen. Zwölftöni-ges Material in bekannt raffinierter Verarbeitung, mit viel Ironie, paro-distischen Einfällen, etwa Verzerrungen von Marschformen, mit ein paar hinreißenden schönen lyrischen Momenten. Erlesene Klänge, mit Verdi, Mahler und Monteverdi als geistigen Paten. Von einem Ausbrechen aus der traditionellen Verhaftung keine Spur. Das vom jungen Christopher Keen übrigens nicht sonderlich impulsiv geführte Ensemble leistete gesangstechnisch Hervorragendes. Vor allem William Murray als General, Barry McDaniel als Deserteur und Donald Grobe als Revolutionär. Aber die Qualität der Sänger konnte natürlich nicht über die offengebliebenen Probleme dieses Werkes hinwegtäuschen.

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