7209159-1992_24_05.jpg
Digital In Arbeit

Wer fürchtet sich vor Europa?

19451960198020002020

Der Europa-Union haben die Dänen mit knapper Mehrheit eine Absage erteilt. Mißtrauen und Skepsis - vielleicht sogar Angst -haben dem Votum den Weg bereitet. Im herausfordernden Gegensatz dazu steht der Titel eines aktuellen Buches: Keine Angst vor Europa.

19451960198020002020

Der Europa-Union haben die Dänen mit knapper Mehrheit eine Absage erteilt. Mißtrauen und Skepsis - vielleicht sogar Angst -haben dem Votum den Weg bereitet. Im herausfordernden Gegensatz dazu steht der Titel eines aktuellen Buches: Keine Angst vor Europa.

Werbung
Werbung
Werbung

„Die epochale Wende in Osteuropa verändert auch die europäische Integrationslandschaft. Vielgestalt und Pluralismus greifen um sich. Zentralistische Tendenzen werden sich im Westen weniger durchsetzen, wenn immer mehr alte und neue Staaten an die Tür der Gemeinschaft klopfen."

Zu diesem Schluß kommt der Herausgeber des neues Styria-Bandes „Keine Angst vor Europa", Andreas Doepfner, wie die meisten der Autoren Redaktor der „Neuen Zürcher Zeitung", was für Solidität in der Analyse und Unverdächtigkeit im Urteil zur gegenständlichen Sache spricht.

Gegenständliche Sache: Das ist die Frage, ob Kleinstaaten und Gliedstaaten von Bundesstaaten fürchten müssen, von der EG-Dampfwalze politisch, wirtschaftlich, kulturell niedergewalzt zu werden. Die 15 Autoren dieses Bandes kommen nahezu einhellig zu dem Schluß: nein. Aber sie beschönigen nicht und jubeln nicht hoch. Es wird argumentiert. Und das geht etwa so:

Derzeit ist die EG ein bißchen Staatenbund, ein bißchen Bundesstaat, ein bißchen Zentralstaat (Doepfner). Willy Zeller präzisiert: Mehr als nur ein Staatenbund, weniger als ein Bundesstaat, aber immerhin ist „in der neueren Entwicklung der EG-Integration ein auffallendes Element subsidiari-tätspolitischer Artsichtbar geworden: Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung nationaler Bestimmungen ist nämlich an die Stelle der pauschalen supernationalen Rechtsvereinheitlichung getreten" - etwa bei industriellen, lebensmittelrechtlichen und umweltpolitischen Normen.

Seit Böhmenkönig Podiebrad (1461) zieht sich der Gedanke eines Bundes (foedus) europäischer Staaten durch die Geistesgeschichte. Das hieße: schiedsgerichtliche Friedenssicherung, Sanktionen gegen Vertragsbrecher, gemeinsamer Gerichtshof, Bundesarmee, Bundesfinanzen, gemeinsame Rechtssprechung, gemeinsame Außenpolitik - „Elemente, die bis heute den gedanklichen Grundbestand eines europäischen

Purtscher: Kompetenzverlust Ist nicht ganz kompensierbar (hopi) Föderativstaates bilden" (Doepfner).

Seit 1989 tagt jährlich zweimal die Konferenz „Europa der Regionen", deren Ziel es ist, neben Rat und Kommission auch einen kompetenzstarken Regionalrat bei der EG zu etablieren. Der beim Gipfel in Maastricht beschlossene Regionenrat mit beratender Funktion ist immerhin ein Anfang.

Zeller erinnert auch daran, daß „die EG jedenfalls ökonomisch kein im klassischen Sinn zentralistisches Gebilde sein kann", denn die Marktwirtschaft verlange ja dezentrale Entscheidungen.

Schon als die EG noch eine Sechsergemeinschaft war, argumentierte der Benelux-Block, daß es noch kein Organisationsprinzip in der Geschichte Europas gegeben habe, das die Interessen der Kleinen besser wahrte als die EG. Weitere institutionelle Reformen seien unvermeidbar, meint Zeller und regt ein parlamentarisches Zweikammersystem an: eine Volksversammlung, nach der Größe der Mitgliedstaaten zusammengesetzt, und eine Länderkammer (Senat) mit gleich vielen Stimmen pro Staat.

Lothar Späth, der einstige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, prophezeit zwei relativ starke Ebenen: oben (EG-Organe) und bei den grenzüberschreitenden Regionen; der dazwischen liegende Nationalstaat würde zunehmend an Bedeutung verlieren.

Ähnlich argumentiert auch der Vorarlberger Landeshauptmann Martin Purtscher und zitiert dazu Daniel Bell: „Die Nationalstaaten sind für die großen Probleme unserer Zeit zu klein und für die kleinen zu groß." Purtscher gibt aber auch zu: Die integrationsbedingten Kompetenzverluste der Bundesländer „können auch durch Mitwirkungsmöglichkeiten auf nationaler und europäischer Ebene nicht vollständig kompensiert werden".

Die übrigen Autoren zeigen Möglichkeiten, Nutzen und Grenzen föderalistischer Elemente an den Beispielen USA, Deutschland, Kanada, Schweiz, Sonderfall Tessin, Belgien, Frankreich, Italien, Spanien und Jugoslawien auf: viel Stoff zum Nachdenken, keiner zum Verzweifeln an Europa, aus dem Österreich sich nicht fortstehlen kann.

KEINE ANGST VOR EUROPA (Föderalismus als Chance). Hrsg. Andreas Doepfner, Styria Verlag, Graz 1992. 223 Seiten, öS 298,-

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung