7031166-1989_31_05.jpg
Digital In Arbeit

Wer ist da „asozial“?

19451960198020002020

Als 1954 die Mehrkinderstaffel eingeführt wurde, gab es tosenden Applaus von beiden Großparteien. Sie galt jahrzehntelang als wichtige Errungenschaft zum Ausgleich der Familienlasten.

19451960198020002020

Als 1954 die Mehrkinderstaffel eingeführt wurde, gab es tosenden Applaus von beiden Großparteien. Sie galt jahrzehntelang als wichtige Errungenschaft zum Ausgleich der Familienlasten.

Werbung
Werbung
Werbung

„Solange es nicht möglich ist, die finanziellen Lasten sofort vollständig auszugleichen, wird der Fehlbetrag zwischen den tatsächlichen Lasten und den ausgezahlten Beihilfen mit steigender Kinderanzahl immer größer. E s ist daher erforderlich, daß die Beihilfen für jedes weitere Kind progressiv steigen.“ Das ist nicht die Meinung von Marilies Flemming, die eine „Familienbeihilfe in Form eines Mutterkreuzes“ (Finanzminister Ferdinand Lacina) anstrebt und mit der Mehrkinderßtaffei eine „unsoziale Forderung vertritt“ (Christine Maier, Vorsitzende der Frauenabteilung der Gewerkschaft der Privatangestellten). Nein, das war die Meinung, mit welcher die Abgeordneten aller Fraktionen die Mehrkinderstaffel am 15. Dezember 1954 mit dem Familienlastenausgleichs-gesetz nicht nur beschlossen, sondern auch überzeugend begründet haben: Im Bericht des Finanz- und Budgetausschusses, der die Unterschrift von Ferdinanda Flossmann (SPÖ) als Vorsitzende und von Pius Fink (ÖVP) als Berichterstatter trägt. - Sind die Sozialisten damals „asozial“ gewesen?

Die damals eingeführte Mehrkinderstaffel war neben der Einbeziehung aller Familien (auch jener der Selbständigen) die wesentlichste Errungenschaft dieses ersten Schrittes zum allgemeinen Ausgleich der Familienlasten in Osterreich.

Das Gesetz beruhte, wie der Ausschußbericht erläuterte, „auf der unleugbaren Tatsache, daß durch die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte die mit der Erhaltung und der Erziehung von Kindern verbundenen Belastungen den Lebensstandard der Familie umsomehr herunterdrückt, je größer die Kinderzahl der einzelnen Familien ist“. Diese „Umkehrung des Kindersegens in sein Gegenteil“ verletze das Recht des Menschen auf Familie und hindere ihn daran, „seinen natürlichen und rechtlichen Verpflichtungen zur Erhaltung seiner Kinder nachzukommen“. Die „scharfe Zurücksetzung und teilweise sogar Ausschließung der Familie von der allgemeinen und kontinuierlichen Erhöhung des Lebensstandards“ hätte auch wirtschaftliche Gründe zum Hinschwinden der Familien- und Kinderfreudigkeit geschaffen.

Die Familienbeihilfen wurden vom Gesetzgeber nicht als eine Prämierung der Kinder verstanden (die dann allenfalls in gleicher Höhe für jedes Kind gewährt werden müßte I), sondern als „Ausgleich der finanziellen Mehrbelastung“, welcher-wie es weiter formuliert wurde - „zwischen denjenigen zu erfolgen (hat), die die Lasten im Interesse der gesamten Gesellschaft tragen, und jenen, die solche Lasten nicht zu tragen haben, jedoch bewußt oder unbewußt daraus Nutzen ziehen, daß es andere für sie tun“.

Die Staffelung war damals mit 105 Schilling für das erste, 150 für das zweite und dritte und 200 Schilling für das vierte und jedes folgende Kind sehr deutlich und erreichte im letzteren Falle etwa die-Hälfte des damals angenommenen Existenzminimums eines Kindes. Im Jahr 1977 betrug die Mehrkinderstaffelung 450 für das erste, 490 für das zweite und 590 Schilling für das dritte und die folgenden Kinder.

Frau Bundesminister Flemming hat nun neuerlich die Wiedereinführung der Mehrkinderstaffel vorgeschlagen. Er sieht eine generelle Erhöhung der Familienbeihilfe um 100 auf 1.300 Schilling, für jedes zweite Kind eine weitere Erhöhung um 100 auf 1.400 Schilling und für das dritte und jedes weitere Kind • um 100 auf 1.500 Schilling pro Monat ab 1. Jänner 1990 vor. Die .Altersstaffelung ab dem zehnten Lebensjahr um 250 Schilling soll unverändert bleiben.

Die aktuelle Begründung ist erschütternd und überzeugend zugleich: Für 39 Prozent der Arbeiterfamilien und für 30 Prozent der Beamtenfamilien bedeuten heute schon zwei Kinder ein Leben an oder unter der Armutsgrenze; bei drei Kindern befinden sich schon rund 61 Prozent der Arbeiter- und rund 67 Prozent der Beamtenfami-

lien in einem solchen sozialen Notstand (FURCHE 10 und 40/1988).

Die Forderung nach einer Mehrkinderstaffel ist nicht der Ausfluß einer Ideologie, sondern die Konsequenz aus der nüchternen Logik der beabsichtigten Hilfe. Solange diese Hilfe die volle Höhe der auszugleichenden Lasten nicht erreicht, macht allein die Mathematik die mit der Kinderzahl steigende wirtschaftliche Uberforderung der Familie erkennbar: Der ungedeckte Betrag wird immer größer, das für jedes FamiUenmitgUed verfügbare Einkommen immer kleiner.

Nur für jemanden, der gewohnt ist, soziale Probleme aus dem Blickwinkel des Staates zu sehen, das heißt, unter dem Blickwinkel der budgetären Ausgabe, für den mag allein entscheidend sein, daß für jedes Kind aus öffentlichen Mitteln gleich viel aufgewendet wird. Muß aber nicht jemand, der der sozialen Lage wirklich Rechnung tragen will,dieses Problem vom Erfahrungshorizont der betroffenen Familie her sehen? Welche Gleichheit ist hier ein sozial sinnvolles Zieh die der Belastung des Staates oder die der verbleibenden Belastung der Familie? Seit die Sozialisten die Abschaffung der Mehrkinderstaffel nach 1980 durchgesetzt haben, ist es die Schwäche ihrer Argumentation, sich mit dem Gesichtswinkel des Staates, nicht aber dem der Familie zu identifizieren. Zeigt sich darin so etwas wie ein ideologischer Restbestand?

Der Autor ist finanznünister und National-bankpräsident a.D. und Mitherausgeber der FURCHE.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung