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Wer ist dieser Jimmy Carter?

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Diese Frage, wer Jimmy Carter ist, stellen sich heute nicht nur Nicht-amerikaner, sondern auch ein noch überwiegender Teil des amerikanischen Elektorates, das Carter sich im Sturm zu erobern anschickt. Die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei, die vor kurzem bekannte Politiker wie Jackson, Udall oder Humphrey einander streitig machten, ist ihm so gut wie sicher — und das mehr als zwei Monate vor dem Parteikonvent, auf dem man einen „demokratischen Bürgerkrieg“ erwartet hatte. Er hat jetzt Zeit, die sonst vor Präsidentschaftswahlen hoffnungslos personell und ideologisch zerstrittene Demokratische Partei hinter sich zu einigen und zu vergattern, während sich im republikanischen Lager eben jener Zerfleischungsprozeß abspielt, der dem Kandidaten dieser an Mitgliedern sowieso schwächeren Partei fast alle Chancen für die Novemberwahlen raubt. So hat die Demokratische Partei den McGovern-Komplex abgebaut. McGovern hatte eine Majorität auf dem linken Flügel des Elektorats aufzubauen versucht und — durch den Verzicht Humphreys — die Vietnambelastung abgeschüttelt, die in einem Wahlkampf der Rekri-minationen noch immer ein Faktor hätte sein können.

Wie konnte nun ein fast unbekannter Jimmy Carter Erfolg haben,wo so viele Prominenz vor ihm gescheitert war? Wer ist Jimmy Carter?

Zunächst einmal ist es eine seiner Trumpfkarten, unbekannt gewesen zu sein. Während es bisher immer ein kaum zu überwindendes Handikap war, ein unbeschriebenes Blatt zu sein, während Millionen darauf verwendet wurden, einen Kandidaten im Unterbewußtsein des Wählers zu verankern, war es für Carter ein Vorteil, wenig mit Politik — vor allem mit Bundespolitik — zu tun gehabt zu haben. Heute wird in typisch amerikanischer Oberflächlichkeit und Großzügigkeit alles mit einer großen Handbewegung abgewiesen, was mit Washington zu tun hat. Ob Parlamentarier aus dem Kongreß oder Vertreter der Administration — sie alle haben in den Augen eines wesentlichen Teils des Elektorats versagt, gelogen oder gestohlen. Washington wird zum Blitzableiter für alles, was schiefgegangen ist.

Vor allem wirft man Washington Immobilität vor, ohne zu bedenken, daß es schließlich das Elektorat selbst war, das die Pattstellung zwischen Kongreß und Administrative gewählt und somit auch zu verantworten hat. Jimmy Carter, so meinen viele, sei in der Lage, diese Lähmung zu lösen. Nicht nur ist er ein Demokrat und stoße daher nicht ab ovo auf den Widerstand des von Demokraten beherrschten Kongresses wie Präsident Ford. Mit einem starken Mandat im November könnte er auch erfolgreich direkt an das Wahlvolk appellieren und widerspenstige Parlamentarier unter Druck setzen. Viele sehen in Carter auch den Drachentöter der vielarmigen und sich ständig ausbreitenden Verwaltung und verweisen darauf, daß er als Gouverneur von Georgia die lokale Verwaltung wesentlich beschnitten habe. Zu versprechen, man werde aus 2000 Verwaltungseinheiten deren 20 machen, ist zwar eine lächerliche Übertreibung, aber es geht ja um den Trend, und nicht um abgezirkelte Konzepte.

Etwas weniger klar profiliert ist, was Carter sich wirtschaftlich vorstellt. Er verspricht Vollbeschäftigung ohne Inflation; die Idealvorstellung liegt bei 4 Prozent für beide Übel. Das will Carter aber nicht nur durch marktwirtschaftliche Maßnahmen erreichen. Er will Arbeitsbeschaffung, aber nicht durch die öffentliche Hand, sondern durch Stärkung des Privatsektors. Sollte die Inflation auf diese Kur nicht ansprechen, so will er auf jeden Fall Werkzeuge in Form von Preis- und Lohnkontrollen benützen. Wir sehen also hier bereits die Tendenz, vielen oder allen etwas zu geben: dem noch immer an Marktwirtschaft Glaubenden die Stärkung des Privatsektors, den bisher Carter gegenüber noch kühlen Gewerkschaften potentiellen Lohn- und Preiskontrollen. Carter will die Wirtschaft durch Liquiditätserhöhung, billigeres Geld, stärkere Kontrolle über die Notenbank ankurbeln, will aber zugleich verschiedene Steuerbegünstigungen zurücknehmen, das Steuergesetz vereinfachen und für den kleinen Mann die Steuern sogar senken. Der klassische Fall einer Neuverteilung des Nationalprodukts auf fiskalischem Weg? Durchaus möglich und wahrscheinlich. Aber noch ein wenig verschleiert durch marktwirtschaftliches Lippenbekenntnis. Auch die Kampfansage an Monopole ist schließlich ein marktwirtschaftlich motivierbarer Kampfruf.

Ähnlich breit gestreut scheint Carters Wohnbaukonzept zu sein. Er will wohl die Entscheidung des Obersten Gerichts in Richtung Rassenintegration auf dem Wohnbausektor anerkennen und unterstützen, aber er ist gegen zwangsweise Aufspaltung „ethnisch reiner“ Wohnräume — ein Ausdruck, der.viele an Rassenbegriffe aus einer bereits überwunden geglaubten Zeit erinnert. In der Praxis heißt aber das, daß er sowohl die Stimmen der Neger, die aus den Ghettos der Großstädte ausbrechen möchten, als auch jene der Italiener, Iren, Polen usw. haben möchte, die sich dagegen wehren, ihre kleinen Sprach- und Wohninseln aufs Spiel zu setzen. Diese Bemerkung über „ethnische Reinheit“ schien Carter übrigens zum ersten Mal Schwierigkeiten einzubringen. Sie erfolgte vor der für ihn sehr wichtigen Vorwahl von Pensylvania, wo sowohl Neger als auch die oben angeführten europäischen Minoritäten große Wahlblöcke bilden. Carter gab noch vor der Wahl eine auf die Neger gezielte etwas flache, keineswegs unterwürfige Entschuldigung von sich — und erhielt sowohl die Stimmen der einen, wie jene der anderen. Hier zeigte sich ein wenig das Phänomen Carter von seiner politischen Seite. Für die Weißen kann ein Südländer nichts anderes sein als ein Konservativer, der die Reinheit der weißen Rasse schützt, für die Neger jedoch ist ein Südstaatler, der die Bürgerrechte einhält, sich objektiv verhält und entspannungsorien-tiert ist, ein politischer Typus, der über die alles versprechenden Liberalen der Ostküste zu stellen ist.

Gerade für diese Liberalen ist Carter jedoch das rote Tuch. Sein Herz scheint nicht für soziale Fortschritte zu bluten, er gibt sich vielmehr stur und wenig kompromißbereit. Wie soll ein solcher Typ den Kompromiß mit dem Kongreß suchen, wie soll er das Geben und Nehmen internationaler Diplomatie praktizieren?

Außenpolitik — das ist, wie er selbst zugibt, Carters schwache Seite. Im tiefen Georgia, auf der Erdnußplantage, der er entstammt, spürt man wohl ihre Auswirkungen, aber man macht sich wenig Gedanken darüber. Was Carter daher zur Außenpolitik geäußert hat, ist ziemlich blaß, aber fundamental doch nicht wesentlich von dem abweichend, was die Regierung vertritt. Carter hetzt durchaus nicht gegen Kissinger und die Detente. Mag sein, daß er sich das für den Hauptwahlkampf aufhebt. Er meint nur, man hätte von den Russen mehr herausholen müssen, man hätte sich weniger schnell kompromißbereit zeigen sollen. Noch ist ihm die Relation zwischen Außenpolitik und Rüstung fremd. Er will den Wehretat um 7 Milliarden Dollar kürzen, aber die Marine, der er selbst entstammt, dennoch aufbauen.

Er meint, es gebe im militärischen Bereich soviel Verschwendung und Doppelgeleisigkeit, daß man sowohl kürzen wie forciert aufbauen könne. Vorgeschobene Positionen, wie jene in Korea, sollten langsam abgebaut, das Engagement in Europa sollte etwas reduziert werden. Dagegen seien die Verbindungen zur Dritten Welt oder zu alten Aliierten wie Japan zu pflegen, damit diese wieder mehr Vertrauen zu den Vereinigten Staaten gewinnen.

Alles das ist keineswegs neu, wurde vor jeder Wahl neu formuliert, nur daß sich Carter eben eher eines feuilletonistischen Stils bedient, der ihm in der Zukunft jeglichen Seitenweg ermöglicht. Erst wenn Vorstellungen über die Besetzung des außenpolitischen Ressorts bestehen, wird man wirklich erkennen können, was Carter dort eigentlich vorhat.Spekulationen sprechen von Senator Frank Church als dem Kandidaten für den Secretary of State, jenen zweiten Drachentöter, der auszog, um die CIA und die FBI zu „säubern“ und zu reformieren, und der auch eine schwache Hand nach der Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten ausstreckt, die er dann wohl gerne für einen interessanten Posten in der neuen Administration zurückziehen würde.

Es ist nun an der Zeit, von Carters Oberfläche fort- und in sein Inneres hineinzublicken. Wie jeder gute Politiker, läßt er ein Innenleben nur erahnen. Man gewinnt bei Carter nicht den Eindruck, daß alle diese Ausfälle gegen die „Mammutbürokratie“ und gegen die „Hure Babylon“ (Washington) rein taktisches Manöver eines Außenseiters sind, der noch nie die eigene Weste beschmutzen mußte. Etwas von einem irrationalen Missionar klingt in Carter an und macht ihn für die „aufgeklärten“ Denker so unerträglich. Sie lächeln süffisant über den „Parsifal ohne Dschungelerfahrung“, mit nichts bewaffnet als mit seinem unbeugsamen Optimismus. Sie können nicht voraussehen, wie er unter außenpolitischem Druck funktionieren wird, und erwarten — vermutlich mit Recht —, daß ihn die Russen, wie weiland Kennedy, auf Herz und Nieren testen werden. Sie, die traditionellen Bannerträger der Demokratischen Partei, ob sie nun aus den Partei-Machtzentren der Städte oder des Gewerkschaftsbundes kommen, wissen nicht, was Carter hinsichtlich einer weiteren Rasseninte-grierung vorhat, wie scharf er gegen „wirtschaftliche Monopole“ durchgreifen würde, was er zu unternehmen gedenkt, um „sozialen Fortschritt“ voranzutreiben. Sie sind jedoch in ihrer Skepsis machtlos. Die Gewerkschaftsführung hatte gegen Carter wiederholt Stellung genommen, die Wähler haben ihn jedoch gewählt und die Empfehlungen der Funktionäre in den Wind geschlagen.

Denn Carter hat Charisma. Er strahlt überdurchschnittliche Intelligenz, Beherrschtheit in seinem Redestil, und vor allem unbeugsamen Optimismus aus. Er appelliert ah das Gute im Menschen, er richtet jene auf, die noch patriotisch fühlen und die entrüstet sind, wenn in den Schulen das Gebet verboten und die amerikanische Flagge verspottet wird. Unter Carter — so fühlt man — würden traditionelle Werte wieder zu ihrem Recht kommen. Keine bürgerrechtlichen oder erworbenen Grundrechte für die schwarze Bevölkerung, eine „No nonsense“-Politik, wie man das drüben übersimplifizierend nennt. Diese Haltung scheint nicht nur im Süden anzukommen, sie dürfte auch im liberalen Norden Resonanz haben, wo man die liberale Lizitationspolitik ebenfalls satt hat.

Daß diese innere Haltung Carters vom Religiösen her gespeist wird, stört nur jene, die gegenüber jeglicher Religion skeptisch sind. Daß ein Politiker sich der glaubenszersetzenden Skepsis entgegenstemmt, daß ihm die Bibel Inspiration und Basis für seinen Optimismus ist, dürfte schließlich mehr Amerikaner ansprechen als abstoßen. Schon wachsen die evangelischen Glaubensgemeinschaften — unter den Negern sehr verbreitet — schneller als der Katholizismus, und auch einem Katholiken wäre ein im Christentum verankerter Präsident gewiß 'ieber als ein atheistischer Intellektueller. Daß dieses Bekenntnis zur Bibel und zum evangelischen Christentum nicht in eine geschmacklose Show ausarte, dafür scheint Carter intelligent genug und mit den Realitäten ausreichend vertraut zu sein.

Wenn man jetzt also vom Unwahrscheinlichen absieht — das in der amerikanischen Innenpolitik jedoch nie ganz auszuschalten ist —, so dürfte die Demokratische Partei 1976 in Jimmy Carter einen Politiker besitzen, der sehr ernste Chancen hat, gewählt zu werden. Nicht nur, daß die Republikaner momentan zwischen Ford und Reagan immobilisiert sind, nicht nur, daß Ford mit dem Establishment belastet, Carter jedoch ein Outsider ist — Carter scheint auch politisch und philosophisch im allentscheidenden politischen Zentrum des Elektorates verankert zu sein. Es dürfte ihm gelingen, jeden Republikaner (sicherlich Reagan, aber auch Ford, der zuletzt immer mehr nach rechts rücken mußte, um gegen Reagan zu bestehen), auf den rechten Flügel des politischen Spektrums abzudrängen. Damit würde er seinen republikanischen Gegner in eine hoffnungslose Position manövrieren.

Denn in der modernen Geschichte der USA hatte noch nie ein Kandidat von der Flanke des politischen Spektrums eine Wahl gewonnen. Goldwater auf der Rechten wurde ebenso vernichtet wie McGovern auf der Linken. Es wäre daher gar nicht undenkbar, daß der republikanische Parteikonvent in Kansas City zuletzt einen Kompromißkandidaten wie Nelson Rockefeller, der ein wenig links vom Zentrum angesiedelt ist, Carter entgegenstellt.

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