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Wer ist vertrauenswürdig

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Die Politiker entdecken die Bürger. Eigentlich haben sie nichts mehr zu entdecken. Sie scheinen nur vergessen zu haben, durch wen sie das geworden sind, was sie sind.

Darum dürfte es nicht heißen: Die Politiker entdecken die Bürger. Es müßte heißen: Die Politiker erinnern sich der Bürger. Darin liegt ein großer Unterschied.

Erinnerungen ist es eigen, daß sie Lücken haben. Auch daß sie sich in Oberflächlichkeiten verlieren. Also ist es kaum verwunderlich, daß sich das Erinnern an den Bürger in der umfangreich starken, jedoch inhaltlich schwachen Regierungserklärung der rot-blauen Koalition nicht niederschlägt. Nur der neue Innenminister, Karl Blecha, der schon seinerzeit seine Partei als „größte Bürgerinitiative des Landes“ be- zeichnete, tat einen Schritt in Richtung ausgesprochener Bürgererinnerung: Er nannte sein Ministerium ein „Bürgerministerium“.

Namen und Worte sind Schall und Rauch. Es müßten ihnen die Taten folgen. Mehr noch: Taten müßten sie begleiten, um sie überhaupt noch glaubhaft zu machen. Die neue Volksanwältin Franziska Fast sagte in der Radiosendung „Selbstporträt“: „Wenn wir von der Bürgernähe reden, haben wir sie in die Praxis umzusetzen.“ Und in ihrem Gespräch mit der „Arbeiter-Zeitung“ richtete sie einen Angriff gegen die „Arroganz einzelner, die hinter dem Schreibtisch sitzen“. Es wäre zu wenig, nur die Arroganz von Bürokraten zu meinen. Diejenige vieler Politiker ist noch viel angriffswürdiger.

Im bürgerfeindlichen Gehaben der sozialistischen Politik fand diese, von der Sozialistin Fast kritisierte Arroganz während der Jahre der Alleinregentschaft unglaubliche Höhepunkte. Erinnert sei bloß an das Verhalten bei der Volksabstimmung über Zwentendorf, die Manipulation bei Volksbefragungen in Wien sowie das arrogante Hinwegsetzung über das Ergebnis des Volksbegehrens über den Bau des Konferenzzentrums.

In ihrer Erinnerung an den Bürger ging auch die große Oppositionspartei nicht weit genug, sonst hätte sich das Wahlergebnis dem prophezeiten „Wahlsieg, der sich gewaschen hat“, merkbarer genähert. Die Idee, freie Bürgerkandidaten auf wählbaren Plätzen aufzustellen, um so einer für den Wähler greifbaren Öffnung der

Partei den Weg zu bahnen, wurde nur in engsten Kreisen ventiliert - und auch das nur sporadisch.

Bei der Wahl gab es rund eine halbe Million „verlorene Stimmen“. Diese respektable Summe setzt sich aus Nichtwählern, Ungültigwählern, Grün-, Alternativ- und Olah-Wählern zusammen. Zumindest einige Zehntausend davon hätten für die Opposition gewonnen werden können, wenn es zu einem nicht nur gelegentlichen verbalen Brückenschlag zwischen Bürgerpolitik und Oppositionspolitik gekommen wäre.

In seiner Kolumne „Liebe Freunde!“ auf Seite 2 der Parteimitarbeiterzeitschrift „Plus“ schrieb Alois Mock nach der Wahl: „Wir wollen allen Leuten, die mit dieser Regierung nicht einverstanden sind, die Möglichkeit anbieten, ihre Vorstellungen mit uns zu verwirklichen. Dazu müssen wir vor allem das Gespräch mit dem einzelnen Bürger führen, wo immer sich eine Gelegenheit dafür bietet.“ Und bei der gesamtösterreichischen ÖVP- Sekretärekonferenz in Schlad- ming meinte er: „Wir wollen als Anwalt der Bevölkerung auftre ten, wobei die Parteisekretäre und -funktionäre eine Art ,Scha- nierfunktion ausüben sollten.“

. Es dürfte nicht leicht sein, die Bürger dazu zu bringen, von diesen Angeboten Gebrauch zu machen und die „Schanierfunktion“ von Parteifunktionären anzuerkennen. Der politische Wind ist in Drehung begriffen und weht den Parteien - gleichgültig welchen - immer härter ins Gesicht.

Denn eine neue Entwicklung zeichnet sich an: Die Bürger entdecken die Politik. In zahllosen Bürgerinitiativen, auch in neuen Parteien und politischen Gruppierungen begeben sie sich auf Entdeckungsreisen. Diese Reisen führen über die Zeitmarken von Wahlterminen hinaus. Eines ist ihnen gemeinsam: Reiseführer ist das große Mißtrauen gegen die etablierten politischen Parteien, unabhängig davon, ob ihre Vertreter die Regierungs- oder die Oppositionsbank drücken.

Ein Parteipolitiker scheint diese Realität erkannt zu haben: Der

SPD-Abgeordnete zum Deutschen Bundestag Reinhard Uberhorst aus Schleswig-Holstein. In einer Auseinandersetzung mit dem Atomstaat der Zukunft (die schon begonnen hat) schlägt er seinem Parteifreund, dem Hessischen Ministerpräsidenten Hol- ger Börner vor, beim Atomverfahrensrecht eine wirkungsvollere Bürgerbeteiligung sicherzustellen. Bereits an allen Vorverhandlungen soll neben Industrie, Behörden und Gutachtern auch ein „Bürgerbüro“ beteiligt werden, dessen „fachlich qualifizierte Mitarbeiter das Vertrauen der kritischen Bürger“ besitzen.

Der Ruf nach solchen Instanzen ist auch in Österreich erst kürzlich vor Tausenden Zusehern der Fernsehsendung „Argumente“ lautgeworden: In der Auseinandersetzung um die Mißstände rund um die Grazer Mülldeponie forderten die bedrohten Bürger weitere Untersuchungen unter Aufsicht der „Argumente-Redak- tion“. Die Unterabteilung einer Abteilung des Fernsehens scheint betroffenen Bürgern in Ermangelung eigener wirksamer Institutionen vertrauenswürdiger als politische Instanzen, seien es nun Behörden oder Parteien.

Solche Beispiele sollten den Politikern, die sich des Bürgers erinnern — mit oder ohne parteipolitische Absichten und Hintergedanken - sehr ernsthaft zu denken geben.

Der Autor ist freier Publizist.

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