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Wer kreist ein, und wen?

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Zwischen Mitte Juni und Mitte August 1963 führte die schleichende russisch-chinesische Krise zu jener irreparablen ideologisch-politischen Explosion, durch welche die Illusion von der Einheit des Weltkommunis-mus zerstört wurde. Dieses bedenkliche Jubiläum wurde wissentlich sowohl in Moskau als auch in Peking ignoriert. In der Polemik war bisher interessanterweise das militärisch schwächere Rotchina initiativer und aggressiver. Die Russen arbeiteten weniger spektakulär, eher hinter den Kulissen. So empfing Breschnjew in Washington die Führer der amerikanischen KP, stellte ihnen den Sowjetstandpunkt dar und machte kein Hehl daraus, daß zur Stunde der Kreml die Freundschaft der Rockefellers mehr brauche als eine Versöhnung mit Mao Tse-tung und Tsohu En-lai. Ende Juni 1973 erwähnte jedoch ein Sowjetkommentator zum erstenmal die Möglichkeit eines russischchinesischen Krieges. Verteidigungsminister Marschall A. Gretschko verlangte die Aktivierung des von Stalin 'einst in schwersten Zeiten ins Leben gerufenen Staatsverteidigungskomitees, in dem die höchsten Kommissare der Verteidigung, der Außenpolitik und der Staatssicherheit Sitz und Stimme haben. Kurz danach stellten Gretschko, Außenminister Gromyko und Sicherheitschef Aridropow „die Einheit der politischen und strategischen Führung“ wieder her, als sie ins Politbüro einzogen. Viele sowjeteuropäische Generäle sind zur Zeit der Ansicht, daß ein Angriff der Sowjetarmee gegen China möglich, wenn nicht „bevorstehend“ sei.

Die drei Trümpfe der chinesischen diplomatischen Strategie sind: die Entente mit den USA, die Annäherung an Japan und die Stärkung . XÄTO-Europas. Dementsprechend wurden generell alle Propa-gandaattackein gegen die amerikanischen Truppen in Japan und auf den Philippinen eingestellt. Nur in Kambodscha unterstützt Peking die Gegenregierung des roten Prinzen Sihanouk. Wenn von der amerikanischen Truppenpräsenz in Europa privat die Rede ist, betonen chinesische Diplomaten unumwunden, daß Washington die europäischen Verbündeten noch mehr unterstützen sollte, um hier mehr Sowjettruppen auf längere Zeit zu binden. Der Nixon-Breschnjew-Gipfel hat die Chinesen „unglücklich“ gemacht. Eine ost-westliche Truppenreduzierung in Europa paßt ebenfalls nicht in das chinesische Konzept. Nichts fürchten die Chinesen so sehr wie eine Einkreisung durch die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten. Moskaus Alptraum ist hingegen eine Einkreisung durch Peking und Washington. Vielleicht wird die Geschichte eines Tages den Beweis liefern, wer wen zuerst „eingekreist“ hat.

Peking bekämpft mit allen Mitteln die Breschnjew-Doktrin von der „begrenzten Souveränität“, ebenso aber auch das von Moskau propagierte „kollektive Sicherheitssystem für Asien“, mit dem die Russen allerdings in den asiatischen Ländern bisher, keinen Erfolg gehabt haben. Für Peking bedeutet es aber eine Gefahr, daß in den südostasiatischen Nachbarländern überhaupt eine „Moskauer Alternative“ auftauchen konnte. Wer hätte noch vor kurzem annehmen können, daß Peking die amerikanische Idee des „Atomschutzschirmes“ über Japan und die Anwesenheit starker amerikanischer Kräfte dort, ja sogar die schrittweise Wiederherstellung des japanischen Militärpotentials stillschweigend akzeptieren würde? Dem japanischen Ministerpräsidenten Kakuei Tanaka gelang das diplomatische Kunststück, die Furcht der Rotehinesen vor dem japanischen Militarismus zu zerstreuen. Seither entstand die paradoxe Situation, daß in Peking eine starke bewaffnete Präsenz der Vereinigten Staaten sowohl in Westeuropa als auch in Ost- und Südostasien nützlich und wünschenswert erscheint.

Ein Hauptgrund dafür mag auch darin liegen, daß die Spaltung zwischen der chinesischen Partei- und Armeeführung seit dem Putschversuch der Lin-Piao-Gruppe, also seit etwa 18 Monaten, eher noch tiefer geworden ist. Selbst in der Armee ist Zerrissenheit feststellbar, viele Distriktkommandeure ignorieren die

Befehle der Zentralregierung, bis vor kurzem wurde Offizieren und Soldaten verboten, Peking bewaffnet zu betreten. Die Armee in Ho-pei und 'Ho-nan, die Okkupationskräfte in Tibet und die Heilung-Charig-Armee verursachen immer ärgeres Kopfweh bei den Pekinger Führern.

Diese Führer haben nämlich nicht vergessen, daß Moskauer Hände es waren, welche stets alle Putschfäden festhielten. So war es im Jahr 1959, als das Lushan-Komplott entdeckt wurde, dessen Exponenten der „Koreakriegsheld“ General Peng Te-huai und der Gründer der Volksbefreiungsarmee, General Chu-Te, waren. Und es war nicht anders im Falle von Lin Piao, Huang Yungsheng, Wu Fa-shien und Chiu Hui-tso. Der Riß zwischen Partei- und Armeeführung konnte bis heute nicht geheilt werden.

Auch heute noch besteht diese Fehde zwischen Armee und Partei fort. Die Weltöffentlichkeit hat es noch nicht erfahren, daß der „altbewährte Feind“ Maos, Wang Ming, in die UdSSR flüchten konnte, wo er als Gast des Kremls lebt.

Dunkle Schatten: an Chinas nördlichen Grenzen wurden bereits 49 Sowjetdivisionen zusammengezogen; die fernöstlichen Gewässer werden von 120 sowjetischen Unterseebooten beherrscht und die zwei offensiven nuklearen Abschußbasen der Russen sind Tag und Nacht alarmbereit. Ihre Existenz verursacht wahrscheinlich den größten Alpdruck in Peking. Die Raketenbasis von Choybalsan überwacht die Hauptnuklearbasis der Chinesen zu Lop Nor in der Provinz Sinkiang. Von den anderen Sowjetbasis bei Buyr Nur, in der Nähe der alten mandschurischen Grenze, liegt Peking fast nur einen Gewehrschuß weit entfernt. Der militärische Druck der Sowjets auf China ist konstant und er ist im Wachsen begriffen. Die sowjetische Überlegenheit ist unbestreitbar.

Dazu kommt der indisch-sowje-tische,„Freundschafts-;, Friedens- und Kooperationspakt“, der in Wirklichkeit eine Militärallianz ist. Die Eingliederung Nordkoreas und Nordvietnams in die von den Sowjets dominierte „Asiatische Revolutionsfront“ stärkt Moskaus asiatische Positionen. Um dem entgegenzuwirken, lieferte Peking der „Neuen Volksarmee“ auf den Philippinen, die eine terroristische, revolutionäre Organisation ist, Waffen. Peking unterstützt den obskuren philippinischen Abenteuerpolitiker Lopez, den Gegner des Präsidenten Marcos. Eine ganz ähnliche Situation entstand in Thailand und Südkorea. In Vietnam steht noch ein chinesisch-sowjetischer Kampf um die Herrschaft bevor! Der Waffenstillstand bedeutet nicht einmal eine Lösung dar innervietnamesischen Probleme. Von einem Frieden in Asien ist man ebenso weit entfernt wie früher.

Der 14jährige Vietnamkrieg war. jedoch eine gute taktische und strategische Schule für die Kommunisten, die weiterhin „Volkskriege“, „Ein-heitsfronten;' und die „permanente Revolution“ propagieren. Ihre Erfahrungen und ihre Entschlossenheit wird es ihnen ermöglichen, auch nach der Eroberung Indochinas überall in Asien nach Belieben neue „Befreiungsoffensiven“ zu entfesseln. Daß Peking und Moskau dabei nicht dieselbe Marschroute haben, dürfte evident sein. Die sowjetische diplomatische Offensive läuft bereits mit dem Ziel, Taiwan und Japan zu bewegen, sich an das von Moskau inspirierte Asiatische Sicherheitssystem anzuschließen und von diesem Sprungbrett später auch die ganze koreanische Halbinsel unter Sowjetkontrolle zu bringen. Peking wäre schon zufrieden, wenn Japan von den Sowjetplänen ausgeklammert bliebe. Japanische Warner meinen jedoch, Tokio solle auf dem Kreuzweg ausharren, ohne sich rot oder gelb zu engagieren und die Zukunft des Landes frühzeitig zu präjudizieren.

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