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Wer sind die „Bergtürken“?

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„Mein Herr? Ein freier Kurde hat keinen Herrn!“, antwortet nach Karl May ein kurdischer Würdenträger auf die Frage eines türkischen Paschas, „er ist mein Bey, mein Anführer im Kampf, aber nicht mein Gebieter. Diesen Begriff kennen nur die Türken und Perser“. Der „Schreibtischtäter“ aus Radebeul in Sachsen war bekanntlich nie im „wilden Kurdistan“, das seine Helden Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, die Helden unserer Jugend, in dem unvergeßlichen Abenteuerbuch durchstreiften. Und doch verrät dieser lapidare Dialog mehr über die Seele des — nach dem Willen seiner Unterdrücker in fünf Ländern an der Wegscheide dreier Kontinente — überhaupt nicht existierenden Volkes der Kurden.

Karl Mays „wildes Kurdistan“, das ist das Grenzgebiet zwischen den Sowjetrepubliken Georgien und Aserbeidschan, Nordwestiran, Nordirak und Syrien — und der Türkei. Wilde Gipfel, die noch kein Alpinist bestieg, zerklüftete Schluchten, einsame Wälder und kaum zugängliche Bergpfade. Diese verlassene Weltgegend ist die Heimat von acht bis zehn Millionen, niemand hat sie jemals gezählt, Kurden. Im heute fast schon vergessenen Friedensvertrag von Sevres, einem durch seine berühmte Porzellanmanufaktur bekannt gewordenen Pariser Vorort, in dem die im ersten Weltkrieg zusammen mit den sogenannten Mittelmächten geschlagene Türkei ihre „Gesundschrumpfung“ international bestätigen ließ, gestand man auch den Kurden einen autonomen Staat zu. Doch keine der Signatarmächte hielt sich später an diese Vertrags-bestimmung.

Die Russen wollten aus den Kurden gute Kommunisten machen, die Perser rotteten sie einfach aus, die Syrer machten sie zu Syrern, die Iraker führten gegen sie einen fast fünfzigjährigen Guerillakrieg, die Türken ernannten sie zu „Bergtürken“.

Kemal Pascha Atatürk, der „Türkenvater“, der sein Land während seiner eisernen Diktatur von einer rückständigen orientalischen Despotie in einen modernen westlichen Nationalstaat verwandeln wollte, ignorierte einfach die sich auf die Kurdenfrage beziehenden Abmachungen von Sevres. Er befürchtete von der Erfüllung der Autonomieforderungen eine territoriale Desintegration der Resttürkei. Seither kam es zu fünf blutigen Aufständen der Kurden: 1920, 1925, 1929, 1934 und 1939. Vermutlich wurden dabei Hunderttausende abgeschlachtet. Genaues war darüber nie zu erfahren.

Das Grenzgebiet um die Städte Adana, Diyarbakir und Erincan ist bis heute teilweise militärisches Sperrgebiet. Ausländer konnten es nur auf Schleichwegen und nur von persischer Seite aus betreten, und auch das nur mit dem stillschweigenden Einverständnis des Teheraner Geheimdienstes „Savak“. Seit sich Schah Mohammed Reza und Präsident Qevdet Sunay im Grenzgebiet trafen und eine enge Zusammenarbeit beider Länder gegen die „Terroristen“ vereinbarten, ist auch das nicht mehr möglich.

Nur kurdische Quellen erwähnten die angeblich seit Kriegsende immer wieder aufflackernden Unruhen unter den „Bergtürken“. Ihre Ausweitung zu einem regelrechten Aufstand, mit dessen Niederringung sich die türkische Armee seit Monaten schwertut, hatte zwei Gründe: Das im Frühjahr 1970 zwischen Kurdenführer Mustafa Mullah Barsani und der irakischen Regierung geschlossene Autonomieabkommen, das bislang von beiden Vertragspartnern eingehalten wurde, löste kurdische Kräfte zur „Befreiung“ der türkischen Brüder auf der türkischen Seite Kurdistans. Der linksradikale Terrorismus gegen den kemalisti-schen Staat hingegen band die militärische Energie Ankaras.

Es darf als erwiesen gelten, daß — auf Veranlassung des Kurdenführers — seit zweieinhalb Jahren ein ständiger Strom von Waffen und Munition über die irakische, syrische und bulgarische Grenze eingeschleust wird. Nur ein Teil davon kam der kurdischen Aufstandsbewegung zugute. Der Rest floß weiter an die jugendlichen Stadtguerrilleros von Ankara und Istanbul, in denen die „Bergtürken“ naturgemäß ihre Verbündeten sehen.

Für die Armee Kemal. Atatürks dürfte es heute nicht mehr so leicht sein, mit den rebellischen Kurden fertigzuwerden. Sie haben sich trotz fünf niedergeschlagener Aufstände und Hunderter von „Strafexpeditionen“ nicht vollständig unterdrücken lassen. Zum erstenmal bekommen sie systematische Waffenhilfe aus dem Ausland. Der gefährlichste Aspekt des Kurdenproblems liegt denn auch auf außenpolitischem Gebiet. 1945 bestand in Westpersien für ein Drei viertel jähr schon einmal eine kurdische „Republik von Meh-rabad“ unter sowjetischem Schutz. Später unterstützte die UdSSR jahrelang den Kampf des im Moskauer Exil mit kommunistischem Ideengut vertraut gemachten (allerdings nicht zum Parteikommunisten im gebräuchlichen Sinn gewordenen) Kurdenführers Barsani gegen Bagdad. Entschlösse sich der Kreml irgendwann wieder zur offenen Förderung der kurdischen Wünsche auf einen eigenen Staat, könnte er das ohnehin nur noch mühsam aufrechterhaltene innere und äußere Gleichgewicht der nahöstlichen Staatenwelt zerstören und die Südflanke des westlichen Bündnissystems endgültig aus den Angeln heben. (Freilich würden dann vielleicht auch die auf sowjetischem Gebiet lebenden Kurden ihr Recht verlangen.) Diese Gefahr besteht so lange, wie man in Ankara in dem kurdischen Autonomieverlangen eine Bedrohung der territorialen Integrität der Resttürkei sieht.

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