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Wer vergibt, ist frei

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Mein ist die Rache", spricht der Herr. Er wird so nicht gesprochen haben, sondern eher: nicht dein ist die Rache. Wer rächt, häuft Schutt auf Schutt. Er unter- liegt zudem dem Gesetze der Häu- fung und wird selbst oder in seinen Nachfolgern wieder erreicht, wor- auf das Unheil mit gewechseltem Partner weitergeht. Unrecht durch Unrecht aufheben zu wollen, das ist als legte man in eine Obstschale anstelle fauler Birnen faule Äpfel und erwarte die Aufhebung der Fäulnis. Christus erwies sich gött- lich weise, als er dem Feinde zu verzeihen gebot, denn erstens über- läßt man den „Geschonten" damit seinem Gewissen, weiters überant- wortet man ihn „seiner" Zeit, das heißt er muß vierundzwanzig Stun- den am Tage mit seiner Tat und deren Nichtsühnung fertig werden.

Selbst aber setzt man sich nicht dem Vorwurf der Willkür aus, die jedem Straf verhängen haftet, denn ein Tag Kerker ist nicht ein Tag Kerker, da jeder einzelne einen Tag anders erlebt, ob er jung, alt, siech, kräftig, dumpf oder wach sein mag, und Zelle ist nicht Zelle und wird von jedem anders empfunden.

Jesus sah weiter. Er dachte nicht so sehr an den kleinen Delinquen- ten, als er durch sein Wort die Selbstheilkräfte, die in der Reue stecken, zu erwecken suchte und somit dem Sieg des Guten im Menschen kraft seiner Abstam- mung von Gott vertraute, sondern er dachte an sein Volk, dessen Verhängnis ihm angesichts der Macht Roms und aller künftigen Übermächte vor Augen stand.

Dem Wort „Auge um Auge" wohnt der schrecklichste Irrtum inne, der die Menschen je getrof- fen, denn er überantwortet der Rache Generationen und Genera- tionen und nennt sie dort, wo er zu ohnmächtig ist, Gedächtnis. Aber man kann mit zwei Seelen vor ei- nem Grabe stehen. Die eine wird im stummen Hasse weinen und nur auf den Augenblick gerichtet sein, wo sie verüben darf, worauf ihr ganzes Trachten gerichtet. Alle ihre Kräfte werden darum kreisen, größtmögliches Leid zu verursa- chen, in der stolzdumpfen Annah- me, selbst das größte Leid erlitten zu haben und berufen zu sein, ebenso großes zufügen zu dürfen, selbst unter Einschluß der Selbst- aufgabe. Dieser sich auf einen Gott oder eine höhere Gerechtigkeit berufenden Befriedigung und kurzsichtigen Selbstüberschät- zung - denn der einzelne macht sich zum Maße jener Kräfte, zu denen er nichts vermag, denn er kann Leben nicht spenden - suchte der Nazarener zu steuern, als er von der hinzuhaltenden Backe sprach.

Erst wer vergibt, ist frei. Erst Versöhnung löscht den bren- nenden Ring, der den Blick ver- stellt. Versöhnung ist die Mutter des Friedens und ein Narr, wer das Kind ohne Mutter will. Nicht Strafe, keine Strafe bessert. Sie nimmt dem Bestraften nur die Mühe, über seine Schuld zu befin- den und stellt an die Zufälligkeit eines Verbrechens nicht selten die Gewohnheit. Wer straft, entmün- digt. Das Individuum wird von außen pseudoerlöst und sein inne- rer Zugang zu seiner Tat verschüt- tet. Kann die Strafe nur der Täter über sich verhängen, indem er bereut? Es geht ja darum, ihn auf- zuklären über seine Tat, über de- ren Folgen.

Erst den Uneinsichtigen, den Zyniker, der sich aus der Ge- duld und Nachsicht, aus dem Ver- trauen der Gesellschaft in ihn ei- nen Vorwand zum Rückfall zim- mert, erst ihn hat die Gemeinschaft das Recht zu bannen, will sie nicht zugrunde gehen. Denn dieser, der sich jenseits der Schwelle der Rückkehr befindet, wird den Edel- mut mit Schwäche, das Vergeben mit Dummheit verwechseln und sich an der Stelle der Justiz sehen.

Jeder, dem ein großes Unheil widerfuhr, kennt die Versuchung, Dingen, Lebewesen ja sich selbst ein Ende zu machen. Zum Glück besitzt der einzelne viele Hemm- nisse und vermag das Erlittene an jedem Augenblick zu messen. Nicht so das Kollektiv. Bei diesem ist die „Anheizphase" indirekt und viel länger. Es leidet mittelbar und hat selten sowohl objektiven als auch subjektiven Zugang zu den wirkli- chen Wurzeln seines Leides. Wäh- rend der einzelne Opfer und Rich- ter und Maß seines Zustandes ist und sein Vergeben aus ihm kommt und in ihn mündet, kann das Kol- lektiv nichts von dem allen sein. Es kann der einzelne nicht vergeben, was alle erlitten, sein Verzeihen würde zum Unrecht werden, nichts als Unverständnis bewirken und ihm den Stempel des Eigennutzes, ja Verrates aufprägen. Jene näm- lich sind die wahren Helden, die es wagen, das scheinbar Unerhörte zu tun, sich selbst auszusetzen und auf Gedeih und Verderb so lange auf ihre Mitmenschen einzuwirken, bis diese erwachen und ihnen Gehör leihen, um das Ungeheuerli- che zu vernehmen, nämlich daß erst Versöhnung - die unerbittlichste aller Richterinnen - Reue entste- hen lassen kann.

Es gibt keine verbrecherischen Völker und jene, die andere als solche bezeichnen, sollten ihre Einstellung überprüfen, ehe diese sie wieder zurückwirft, unter die Vorwände, die den Veteranen des Rückschrittes schon immer Heimat waren. Eines allerdings bleibt als Hindernis bestehen: Vergebung ist Einsicht, also Verstand, und dieser kann nicht eingefordert werden.

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