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Wer verzeiht den Heiligen?

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Unzählige sehen ihre Aufgabe darin, im Christentum und in der Kirche Tabus aufzufinden und auszuräumen. Nicht ihr geringster Erfolg besteht darin, daß ihnen eine Bewußtseinsmanipulation gelungen ist, die nicht weniger als die Sinngebung christlichen Lebens betrifft und überraschend weite katholische Kreise in ihren Bann zieht. An dieser Bewußtseinsmanipulation wirkte die hemmungslose Kritik an Positionen des Wahrheitskosmos des Glaubens mit, vor allem aber die überlaute Kritik an kirchlichen „Strukturen“, den angeb lichen und tatsächlichen Organisations- und Funktionsmängeln des kirchlichen Lebens. Mit diesen an den Strukturen haftenden Auseinandersetzungen wurde der Blick von der Tatsache abgelenkt, daß das Kommen des Reiches zu allererst Sache der inneren Erneuerung ist, der vom Christen stets neu geforderten inneren Umkehr, der Metanoia. Die Bewußtseinsmanipulation reicht von der Abwertung des Gebetslebens bis zur ausschließlichen Verweisung der Gottesliebe in eine diesseitig orientierte Menschenliebe.

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Unzählige sehen ihre Aufgabe darin, im Christentum und in der Kirche Tabus aufzufinden und auszuräumen. Nicht ihr geringster Erfolg besteht darin, daß ihnen eine Bewußtseinsmanipulation gelungen ist, die nicht weniger als die Sinngebung christlichen Lebens betrifft und überraschend weite katholische Kreise in ihren Bann zieht. An dieser Bewußtseinsmanipulation wirkte die hemmungslose Kritik an Positionen des Wahrheitskosmos des Glaubens mit, vor allem aber die überlaute Kritik an kirchlichen „Strukturen“, den angeb lichen und tatsächlichen Organisations- und Funktionsmängeln des kirchlichen Lebens. Mit diesen an den Strukturen haftenden Auseinandersetzungen wurde der Blick von der Tatsache abgelenkt, daß das Kommen des Reiches zu allererst Sache der inneren Erneuerung ist, der vom Christen stets neu geforderten inneren Umkehr, der Metanoia. Die Bewußtseinsmanipulation reicht von der Abwertung des Gebetslebens bis zur ausschließlichen Verweisung der Gottesliebe in eine diesseitig orientierte Menschenliebe.

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Weltfremdheit ist das Mindeste, das einem vorgeworfen wird, der an dieses Tabu rührt. Tatsächlich ist für das weltoffene Denken nichts klarer, als daß es in der gegenwärtigen totalen Krise von Kirche und Gesellschaft nicht genug Christen geben kann, die sich im Denken und Leben zu der Persönlichkeitskultur bekennen, in der sich das Humanum, die Vollmenschlichkeit, in der Heiligkeit vollendet.

Fehlbegriffe

Zu sagen, daß dies auch die Botschaft des II. Vatikanischen Konzils ist und daß die nur in Strukturen Denkenden diese Botschaft überhört haben, auf die es dem Konzil zu allererst und vor allem ankam, beeindruckt sie nicht. Denn nach ihrer Meinung hat die Entwicklung der Dinge das Konzil längst überholt. Das Konzil (Dogmatische Konstitution über die Kirche Nr. 39) läßt keinen Zweifel: „Es ist Gegenstand des Glaubens, daß die Kirche, deren Geheimnis die heilige Synode vorlegt, unzerstörbar heilig ist.“ Und das Konzil erinnert, daß Heiligkeit das Lebensziel des Christen ist: „Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung“ (1 Thess. 4. 3). Die die Heiligkeit als lebensfremd tabuisieren, merken nicht, daß sie mit ihrem Begriff der Heiligkeit um ein ganzes Jahrhundert im Rückstand sind. „Heilig hieß, was allem Leben widersprach“ (Nietzsche). Wenigen Heiligen wurden ihre Tugenden verziehen, denn man sah in ihnen Entartungen des Natürlichen im Menschen. Zu den wenigen, denen ihre Tugenden verziehen wurden, gehörte der heilige Franziskus von Assisi, vielleicht weil man seinen „Sonnengesang“ weltlich mißverstand. Denn was die Fioretti di San Francesco von ihm erzählten, wußten die wenigsten. Diese „Blümlein“ seiner Worte und Werke lassen ihn genau das sagen, was das Um und Auf seines Lebens war: aus Liebe zu Gott alles Widrige zu ertragen. Denn, sagt er, wir können auf diese Weise Gott etwas geben, was wahrhaft unser ist, während alles andere was wir besitzen, alle unsere Fähigkeiten und Erfolge, Gottes Geschenk sind. Nicht das Leiden in den Widerwärtigkeiten des Lebens ist die Gabe, an der sich Gott freut, sondern die Liebe des Menschen, die sich in den Widerwärtigkeiten bewährt. Denn jede andere Liebe, wie Franziskus sagen will, ist die Liebe des Beschenkten, die Liebe in Betrübnis und Leid, ist die Liebe des frei Schenkenden. Kraft seiner Freiheit vermag so der Mensch Gott etwas zu geben, was Gott selbst sich unmittelbar zu geben nicht imstande ist. Denn Gott kann nicht anders, als sich selbst lieben, der Mensch vermag ihn in Freiheit zu lieben. Höchste Wirklichkeit wird die Freiheit in der bedingungslosen Liebe. : Nichts anderes als die bedingungslose Liebe zu Gott ist die Heiligkeit.

Sie besteht nicht in dem Egoismus, der nur aufs eigene Heil bedacht ist, sich in Gebetsübungen und Gefühlsregungen nicht genug tun kann, oder sich im Dünkel von etwas Gehobenem im Vergleich zu den gewöhnlichen Christen ergeht oder in der Berührung mit der Welt nur Gefährdung und Nachteil sieht. Selbstverständlich behält das Leben nach den evangelischen Räten in der Abgeschlossenheit der strengen religiösen Orden seinen Ort in der Kirche. Verständlich auch, daß einmal, wie in der wunderbaren „Nachfolge Christi“, dem jahrhundertelang nach der Bibel meistgelesenen Buch über das eine Notwendige, die Heiligkeit zu einseitig als Weg zum eigenen Heil gesehen und der Weg in die „Welt“ als suspekt, die Zurückgezogenheit in die eigene Zelle für das Sicherste galt. Heute, nach Johannes XXIH., dürfte allgemein Weltoffenheit (aggiornamento) und Weltarbeit als Bestandteil der von der Liebe Gottes getragenen Spiritualität anerkannt seih. Ein falsches Bild der Heiligkeit entstand auch dadurch, daß man sie gleichsetzte mit den bis zur Unmenschlichkeit gesteigerten Methoden asketischer Selbstbefreiung von den immer gegen wärtigen Fraglichkeiten der menschlichen Natur. Aber nicht erst die Tiefenpsychologie hat zu mancher Klärung von Irrwegen in dieser Hinsicht geführt. Theresia von Lisieux, die geniale junge Heilige, hatte das meiste schon geleistet. Ihre Doktrin, engstens verwandt der des heiligen Franz von Sales, ist die Lehre von der Heiligkeit im Alltag. Die Bildnisse Theresias, die meistens zu sehen sind, lassen kaum etwas vom wahren Wesen dieser Heiligen erkennen. Denn was sie mit so scharfem Geist, so unerbittlicher Folgerichtigkeit und mit so unnachgiebiger Härte gegen sich selbst forderte, ist die aus Liebe zu Gott erfolgende Hinnahme dessen, was sich in den Verpflichtungen jedes Tages als Wille Gottes kundgibt in der Folge von Arbeiten, Mühen, Unannehmlichkeiten, Kümmernissen, Frustrationen und Depressionen. Das Bild der Heiligkeit ist demnach etwas ganz anderes, als es sich in vielerlei Fehldeutungen im Denken von Nichtchristen wie auch von Christen findet.

Vollkommenheit?

Der Zusammenhang von Heiligkeit und Sittlichkeit ist im menschlichen Bereich offenbar. Was ist dann aber die Heiligkeit Gottes, von der zu sprechen und die zu preisen wir durch die Offenbarung belehrt sind?

Denn von der Sittlichkeit Gottes zu sprechen, gibt keinen Sinn. Ist dann Gottes Heiligkeit seine Vollkommenheit nach dem Worte Christi: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ (Matth. 5, 48)? Demnach stellt sich die weitere Frage, was die Vollkommenheit Gottes ist Sie besteht jedenfalls in seiner unendlichen Seinsfülle und Seinsvollkommenheit. Wie könnten wir aber je zu dieser Seins- Vollkommenheit gelangen, wenn wir vollkommen sein sollen wie unser Vater im Himmel vollkommen ist? Der große spanische Philosoph Jakob Baimes fand zuerst eine den fragenden Intellekt befrie- diegende Antwort. Zugleich bot sich ihm der Schlüssel dar, mit dem die Heiligkeit Gottes und die des Menschen auf einen gemeinsamen Nennet zu bringen sind. Wegen der dem

Sittlichen eigenen Absolutheit, so führt er aus, genügen alle Versuche von Erklärungen des Sittlichen durch etwas Relatives dem menschlichen Geist nicht, daher nicht die Erklärung als Verwirklichung einzelmenschlicher oder gesellschaftlicher Glücks- oder Nutzwerte. Er fährt fort: „Welches ist jenes Attribut des unendlichen Wesens, das wir Heiligkeit nennen? Die Liebe seiner selbst, seiner unendlichen Vollkommenheit. In Gott ist eigentlich keine Pflicht, sondern absolute Notwendigkeit, heilig zu sein; denn er liebt mit absoluter Notwendigkeit seine unendliche Vollkommenheit.“ Der absolute Charakter, den wir im Sittengesetz finden, sei der Reflex der absoluten Heiligkeit Gottes und menschliche Heiligkeit das Abbild der Liebe, mit der sich Gott selbst liebt. Max Scheier hat, offenbar ohne Baimes’ Philosophie zu kennen, ähnliche Gedanken entwickelt: Der Höchstwert und das innerste Wesen der sittlichen Person bestehe in der Teilnahme an der Liebe, mit der sich Gott selbst liebt, in der Liebe des Menschen zu Gott „in Gott “, so sehr der vom Menschen vollzogene Akt von dem Akte Gottes real geschieden sei. In der heutigen Philosophie wird von der Liebe als dem höchsten Existenzakt des Menschen gesprochen. Weil die Heiligkeit in der Einstim mung des menschlichen Liebesvermögens in die absolute Liebe Gottes zu sich selbst besteht, ist die Heiligkeit die höchste Existenzform der menschlichen Person.

Niemand, der die Wirklichkeit der menschlichen Natur kennt, wird annehmen, daß das Leben in dieser Liebe schlechthin Fehlerlos! gkeit bedeute. Schon aus diesem Grunde ist es nicht richtig, die Heiligkeit, wie wir gewohnt sind, mit dem ganz vollkommenen sittlichen Leben gleichzusetzen und sie infolgedessen für einen ganz seltenen Ausnahmezustand zu halten. Die Heiligen waren im Sprachgebrauch der Urkirche einfachhin die Christen, nämlich die Getauften, die sich eines neuen Lebens durch die Erlösung teilhaftig wußten, einen neuen Lebenssinn zum Unterschied von der heidnischen Umwelt sahen und diesen zu leben bestrebt waren. An vie len Stellen spricht der Apostel Paulus in seinen Briefen in diesem Sinne von den Heiligen als Gliedern der Gemeinden, an die er schreibt. Der Begriff des Heiligen änderte sich, als die Völker des Abendlandes christlich und das Bekenntnis zur Glaubenswirklichkeit das Gebräuchliche wurde. Ein auszeichnend hohes Maß von Orientierung des ganzen Lebens an der Liebe zu Gott wurde Merkmal der Heiligkeit. In der Folge werden Heilige die genannt, deren „heroisches“ Tugendleben nach ihrem Tode von der Kirche ausdrücklich anerkannt und deren Verehrung im Heiligenkult empfohlen wird. Immer aber blieb es die Überzeugung der Kirche, daß keineswegs nur die zu den Auserwählten gehören, die nach dem Tode mit Christus im neuen Leben geeint sein werden, vielmehr auch die Unzähligen, die den christlichen Lebenssinn zu leben bestrebt waren. Aller dieser wird am Feste Allerheiligen mitgedacht.

Alltag

Ein neuer Begriff des Heiligen bereitet sich vor. Ein neues Zeitalter scheint auf uns zuzukommen, in dem für einen Großteil der Gesellschaft die Gottesferne zum Lebensprinzip oder doch die Gottentfremdung zum gelebten Alltag wird. Wieder wird das Christsein die Berufung zum

Leben nach einem Glauben bedeuten, das der Umwelt als sinnwidrig, als „Torheit“ gilt. Auf vielen Wegen wird durch die Kommunikationsmittel und durch den Lebensstil dieser Umwelt die Glaubensüberzeugung des Christen täglich angefochten, er wird in immer neuer Entscheidung leben müssen: Er wird sich klar sein müssen über das, wofür er sich entschieden hat, und klar sein, warum er sich dafür entschieden hat. Der in der Urkirche geläufige Begriff des Heiligen wird neue Aktualität erlangen. Der Christ dieser neuen Zeit wird im Alltag kaum auffallen, außer dadurch, daß an ihm in der von Unsicherheit, Angst, Frustration gequälten Welt die Ruhe, ja das beglückte Bewußtsein eines in jedem Augenblick und in jeder Situation sinnerfüllten Lebens bemerkbar wird, auch die über die ideologischen Fronten hinweg sich bezeugende Liebe zum Mitmenschen. Diese Liebe wird ihn hindern, bei andern Schuld zu finden und über sie abzuurteilen, vielmehr wird er immer wieder sich des Maßes dessen bewußt werden, was er an Dank für das ihm unverdient zuteil Gewordene schuldig ist.

Heiligkeit ist demnach, recht gesehen, in erster Linie etwas, was zu der irdischen Welt gehört. Sie ist Sache der Laien, sei ihr Stand die Ehe oder Ehelosigkeit, gleicherweise wie der Priester. Weil gelebte Einstimmung in die Liebe Gottes zu sich selbst und zum Menschen, besteht die Heiligkeit in der Vitalität des Christseins. Daher ist ihr Wesen nicht Weltverachtung, auch nicht einfach das Ertragen des Lebens, vielmehr erfüllt Sie sich in einer Liebe zu dieser Welt, die an jedem Punkt und in jeder Zeit Reich Gottes werden soll. Infolgedessen weiß sich Heiligkeit gerufen zur Weltarbeit und zur Verantwortung für die Welt. Mag diese Arbeit und Verantwortung voll von Enttäuschungen sein, der auf die Vitalität des Christseins Bedachte kennt die Verdrossenheit und Verzagtheit nicht, ja er wird immer etwas von der Frohgemutheit des heiligen Franziskus von Assisi an sich tragen, worin Helle und Hoffnung nie verlöschen. Daher hat Johannes XXIII. so recht: „Ein trauriger Christ, ist ein trauriger Christ.“ Mag es am Horizont der näheren und ferneren Zukunft noch so dunkeln, Heiligkeit versagt sich dem Pessimismus. Tatsächlich waren es die großen Heiligen, die in solchen Zeiten Wege in die Zukunft gefunden haben, indem sie christlichen Lebenswerten eine neue Weltbezogenheit gaben, bahnbrechend Einrichtungen für Erziehung und Unterricht schufen, karitative Hilfswerke organisierten, auf die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist abzielende Gemeinschaften gründeten.

Gottesfrage

Ein Modell des Heiligen, das jeder einfach im eigenen Leben zu kopieren hätte, gibt es nicht. Auch die menschliche Heiligkeit Christi ist nicht allen Menschen in gleicher Weise durch Nachfolge als Lebensziel gestellt. Nicht alle sind zur Ehelosigkeit, zur Verkündigung, zur Wundertätigkeit, zum Kreuzestod berufen. Heiligkeit ist etwas für jeden Menschen Individuelles, Einmaliges, Auszeichnendes. Sie ist die Verwirklichung der einen Idee Gottes, mit der der einzelne ins Dasein gerufen wurde. Er ist ins Dasein gerufen mit besonderen geistigen und körperlichen Anlagen, erblich überkommenen Fähigkeiten und Benachteiligungen, eigener physischer und gesellschaftlicher Umwelt. Das alles bildet das Material, mit dem der Mensch die Idee Gottes mit der Bestimmung zur Heiligkeit zu verwirklichen hat. Die einzigartige Auszeichnung für jeden einzelnen Menschen ist es, daß Gott nach jener Idee von jedem in einer individuellen, persönlichen Liebe geliebt sein will, daß Gott aber auch auf diese Liebe mit der intimen, persönlichen Liebe antwortet, die sich einmal als die ewige, unendlich erfüllende Liebeseinigung des Menschen mit Gott offenbaren wird.

Wenn es aber keinen Gott gibt? Es gibt Ihn, weil es die Heiligen gibt. Die Heiligkeit des Menschen, des immer der Gefahr des Selbstverlustes Ausgesetzten, ist nur als Reflex der Heiligkeit Gottes zu begreifen, daher muß es Gott geben.

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