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Werke, die Epoche machten

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Ein Konzert für die Musikalische Jugend, wie es sein soll, fand kurz vor den Pfingstfeiertagen im Großen Musikvereinssaal statt: gut programmiert, klug disponiert — und mit einem der kompetentesten Dirigenten neuer Musik am Pult: Ernest Bour.

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Ein Konzert für die Musikalische Jugend, wie es sein soll, fand kurz vor den Pfingstfeiertagen im Großen Musikvereinssaal statt: gut programmiert, klug disponiert — und mit einem der kompetentesten Dirigenten neuer Musik am Pult: Ernest Bour.

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Nachdem Strawinsky 1913 mit dem „Sacre“ den Höhepunkt seiner russischen Phase erklommen hatte, begann — nach einer Reihe von Versuchen, meist mit kleineren Genres und Besetzungen — mit der von Diaghilew angeregten Pergolesi-Bearbeitung seine zweite, an Meisterwerken reichste Periode: die klassizistische. — Die neapolitanische Musik mit ihrem volkstümlichen

und zugleich spanisch-exotischen Charakter hatte ihm immer schon gefallen, und es bereitete ihm offensichtlich Spaß, seine Instrumenta-tions- und Verfremdungskünste einmal an einem alten Meister zu versuchen, zumal eine Aufführung in der Pariser Oper in der Ausstattung durch Picasso in Aussicht stand. 1919 hat er die Partitur begonnen und beendet, am 15. Mai 1920 fand

die Premiere statt. Dabei wurde nicht nur gespielt und getanzt, sondern auch gesungen — 40 Minuten lang. Und in dieser vollständigen Fassung hörten wir „Pulcinella“, vom ORF-Orchester, gespielt, mit den Solisten Elisabeth Thomann, Sopran, Wolfgang Bruneder, Tenor, und Franz Handlos, Baß. — Kein Musiker wird diese Partitur ohne Vergnügen lesen oder hören. ,Da sind zwar die alten Formen wie Sinfonia, Serenata, Tarantella, Toccata, Gavotte u. a. brav erhalten, es gibt fein begleitete Soli und schön gesetzte Terzette — aber bald sticht Strawinsky der Hafer: da Und dort ein falscher Ton, mal ein nicht ganz korrekter Baß, und immer wieder allerlei pikante Groteskeffekte in der Instrumentation. Eines Meisters Meisterwerk, von dem man damals freilich noch nicht ahnen konnte,

daß es die wichtigste Periode von Strawinskys Schaffen einleiten werde, die in „Ödipus Rex“, „Apol-lon musagete“ und der „Psalmensymphonie“ kulminieren und mit der Oper „The Rake's Progress“ von 1953 ausklingen sollte ...

Neues, Allerneuestes, gab es auch im Sommer 1961 in Donaueschingen zu hören. Das Stück trug den Titel „Athmospheres“ und stammte von dem 1923 geborenen Ungarn György Ligeti. Auf einer den Ausmaßen nach riesigen Partitur mit je 87 Zeilen notiert, dauerte dieses Klangzauberwerk ganze zehn Minuten — und hinterließ einen unvergeßlichen Eindruck. Wir haben „Athmospheres“ in Wien mehrmals gehört und an dieser Stelle auch besprochen. Erteilen wir daher dem Autor, der ja auch ein Professor ist, das Wort zur Beschreibung dessen, was er wollte: das strukturelle kompositorische Denken ablösen durch eine neue Formund Klangvorstellung. „In dieser musikalischen Form gibt es keine Ereignisse, sondern nur Zustände; keine Konturen oder Gestalten, sondern nur den unbevölkerten imaginären musikalischen Raum; und die Klangfarben werden zu Eigenwerten.“ Der Autor war sich der „extremen kompositorischen Position“ seines Werkes genau bewußt und gebraucht selbst den Ausdruck „Sack-

gasse“, in die ein solches Verfahren einmünden könnte.

Daß es keine war, bewiesen zahlreiche Werke, die Ligeti selbst in späteren Jahren schrieb. Und es bewies es auch das an diesem Abend erstaufgeführte „Requiem por Ia li-bertad imaginada“ von Cristobal Halffter, Jahrgang 1930, aus einer deutschen, in Spanien ansässigen Familie, Neffe zweier namhafter spanischer Komponisten (Rodolfo und Ernesto Halffter). — Bei aller Eigenständigkeit, allem subjektiven Ausdruck und trotz größerer Dramatik ist dieses 1971 entstandene Orchesterwerk ohne den Einfluß von Lige-tis Technik nicht denkbar. Und Halffter bekennt sich auch dazu, nachdem er verschiedene andere Kompositionsmethoden ausprobiert hatte, in denen er — ähnlich wie Dallapiccola, Nono und Berio, versuchte, „die serielle Technik zu latinisieren“. Das ist ein kluges und treffendes Wort, und wir wissen heute, zu welch interessanten Resultaten diese Versuche geführt haben (mindestens zwei Dutzend Werktitel

wären an dieser Stelle aufzuzählen). — Doch nun zu diesem 15 Minuten dauernden Orchesterrequiem ohne Singstimmen, ohne unterlegten Text, wohl aber mit einem „Programm“ versehen. Der Autor zahlreicher geistlicher Kantaten, wie „Regina coeli“, „In expectoratione ressurec-tionis Domini“, der „Missa para la juventud'“ und einer UNO-Kantate will in dieser Klangfarbenkomposition nicht etwa seine Hoffnung auf eine imaginierte Freiheit, wie sie vielleicht einmal kommen wird, ausdrücken, sondern die Trauer über Verlorenes. „Es gibt eine endlose Zahl von Freiheiten, auf die ich verzichten mußte, seit ich denken kann. Darum habe ich ein Reuqiem geschrieben mit der ganzen Absicht, die dieses Konzept zum Inhalt hat.“ In der Tat: das ist ihm gelungen. Jeder Hörer mag sich da seine eigenen Gedanken gemacht haben. Auch über die Filiation und Ausdruckskraft von Halffters Musik, die Bour mit dem ORFOrchester so intensiv vermittelte.

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