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Wertfrei - lehren wertlos lehren?

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Uber all den Schulreformvorhaben der letzten Jahre sind wichtige Fragen unseres Bildungswesens vernachlässigt worden. Unter ihnen vor allem die zentrale Aufgabe der Gewissenserziehung. Daß gerade sie nicht die ihr entsprechende Aufmerksamkeit gefunden hat, mag viele Gründe haben. Sie kann staatlich nicht verordnet werden, ein möglicher Erfolg läßt sich in Schulversuchen nicht organisieren und als vorweisbarer Erfolg präsentieren. Gewissenserziehung entzieht sich der heute gängigen Vorstellung von der Machbarkeit. Wer versuchen sollte, mit den von moderner Sozialwissenschaft entwickelten Strategien das Gewissen „produzieren“ zu wollen, würde es mit Gewißheit verfehlen; er würde Erziehung überhaupt verfehlen, weil er den Menschen im Anspruch seiner personalen Autonomie verkennt.

Die öffentliche Mißachtung der Gewissenserziehung steht im radikalen Gegensatz zu ihrer kaum zu überschätzenden Bedeutung. Wir klagen und lamentieren über den Verfall der politischen Kultur, über den verantwortungslosen Umgang mit der Natur, über den Mißbrauch unserer technischen Möglichkeiten; wir beklagen Kälte und Rücksichtslosigkeit im Zusammenleben, das Vordringen der berechnenden Rationalität, die jede freie Mitmenschlichkeit tötet. Jene Klagen bleiben bloßes Gerede oder entarten zu pharisäischem Moralisieren, solange man eine Besserung nicht wirklich will.

Eine wirkliche Besserung, die sich nicht mit vordergründigen Scheinerfolgen zufrieden gibt, kann nur erwartet werden, wenn die Pädagogik sich radikal auf ihre grundsätzliche Aufgabe besinnt: Menschen sich bilden zu lassen, die gelernt haben, ihrem Gewissen zu folgen. Menschen, die dem Opportunismus widerstreben, weil sie sich von den bloß egoistischen Neigungen befreit haben; die im Lärm moderner Geschäftigkeit auf die „innere Stimme“ hören, die sich von dem Verfall an das unpersönliche „Man“ gelöst haben, um ihrer je einmaligen Verantwortung willen.

Es grenzt fast an Zynismus, wenn dieselben Leute, die heute den Mangel an Moralität im öffentlichen Leben beklagen, noch vor kurzer Zeit das Gewissen und seinen normativen Anspruch nicht genug diskriminieren konnten.

Einen besonderen Vorwand gegen Gewissenserziehung in der Schule lieferte und liefert der Hinweis auf den demokratisch-pluralistischen Staat, Schule könne deshalb keine verbindliche Werte vermitteln, sie müsse wertfrei und neutral sein. Wer so spricht, verkennt den Sinn dessen, was pluralistische Gesellschaft meint, ebenso, wie den Inhalt dessen, was Gewissenserziehung ausmacht. Pluralistische Gesellschaft fordert nicht Wertfreiheit, sondern garantiert die Freiheit zum Werten. Sie ist selbst auf ihr zugrunde liegende

„Grundwerte“ verwiesen: Freiheit und Gerechtigkeit; Toleranz und Anerkennung der Menschenwürde.

Gewissenserziehung ist nicht Indoktrination oder Manipulation zu einer Weltanschauung, sondern in der Anerkennung des Absolutheitsanspruchs des Gewissens Hilfe und Hinführen zum Hören auf seine Stimme und Ermutigung zum Verbindlichmachen dessen, was es befiehlt. Das Gewissen wird weder von der Gesellschaft noch durch Erziehung geschaffen, sondern muß als Ausdruck von personaler Autonomie vorausgesetzt werden.

Erziehung schafft nicht erst ein Gewissen; auch bringt sie nicht Normen zur Geltung, die an die Stelle des Gewissens zu treten hätten. Erziehung richtet sich vielmehr an den Menschen, damit er auf den Anspruch seines je eigenen Gewissens achte und diesen Anspruch für sein Handeln maßgeblich macht. Erziehung und Gewissen stehen deshalb nicht in Widerspruch zur pluralistisch-freiheitlichen Gesellschaft. Im Gegenteil: Diese ist auf jene angewiesen; wirkliche Gewissenser-

Ziehung bewahrt Freiheit vor dem Verfall in Willkür, Machtmißbrauch und Ungerechtigkeit.

Ob und wie Schule heute diesem dringendsten Anspruch aller Pädagogik gerecht werden kann, ist eine Frage von besonderer Bedeutung. Wenn die Möglichkeit der Gewissenserziehung bestritten wird, dann sollte das nicht als Alibi für den bequemen Verzicht auf Erziehung gelten. Wohl sollte man die tatsächlichen Behinderungen der Gewissenserziehung in der Schule nicht übersehen. Diese wiegen um so schwerer, weil jene Aufgabe der Schule gar nicht genommen werden kann.

Immer, wenn der Lehrer unterrichtet, steht er auch vor der Forderung der Gewissenserziehung im weitesten Sinne: Wie er mit dem Schüler umgeht, ob in Gerechtigkeit und Verständnis, oder in willkürlicher Sympathie oder Antipathie, wie er mit dem Unterrichtsgegenstand umgeht, redlich und aufgeschlossen, das heißt entschlossen für dessen Wahrheit, oder in Routine und Nachlässigkeit, das alles zeigt den Lehrer in seiner Beispielhaftigkeit.

Das macht die Frage nach unserer Schulsituation mit ihren Tendenzen nicht überflüssig. Wenn in ihr nur noch um der Verwertbarkeit des Wissens willen gelernt wird, dann sind die Ansätze zur Gewissenserziehung verschüttet, dann fehlt jene Muße, die die Frage nach dem gewissenhaften Umgang mit dem Wissen aufkommen läßt.

Wenn in der Schule das „Verhalten“ von Lehrer und Schüler bürokratisch geregelt und reglementiert wird, dann bleibt für autonome Gewissensentscheidung kein Raum. Dann wird der Lehrer eher den Vorschriften der Administration, den vermeintlich sicher wirkenden didaktischen Anleitungen folgen als seinem eigenen autonomen Gewissen.

Wer also bessere Möglichkeiten für Gewissenserziehung in den Schulen schaffen will, der muß dem Lernen wieder seinen pädagogischen Sinn geben, in dem nicht zuerst nach dem Nutzen des zu lernenden Wissens, sondern nach seiner Wahrheit gefragt wird; der muß in der Schule Steuerung und Kontrolle, staatliche Reglementierung so weit zurücknehmen, daß jene Freiräume erhalten bleiben, die die Autonomie des pädagogischen Gewissens zu beanspruchen hat.

Das aber fordert gleichzeitig eine pädagogische Lehrerbildung, die nicht ein handhabbares technisches Verfügungsinstrumentarium bereitstellt und vermittelt, sondern die den Lehrer in seinem pädagogischen Gewissen anspricht. Hier allerdings ist weitere Skepsis am Platze. Eine Universität, der die Möglichkeiten wirklicher akademischer Bildung genommen sind, wird jene Lehrerbildung kaum leisten können. Aber damit ist ein neues, wenngleich ebenso wichtiges Thema angesprochen.

Der Autor ist Professor für Pädagogik an der Universität Wien. Der Text stammt aus einem Vortrag für das Symposium „Innere Schulreform VII: Gewissenserziehung—notwendig und unmöglich?“ (Salzburg, 23. bis 25. Oktober 1986).

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