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Wertfreiheit?

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Die Sexualerziehung ist in diesen Tagen wieder ins Gerede gekommen: Das Unterrichts- und das Familienministerium haben sogenannte Medienkoffer zur Sexualerziehung erstellt, die Eltern, Lehrer und Jugendliche aufklären sollen.

Während kirchliche Sexualerziehung ausdrücklich auf Wert- und Sinnfragen akzentuiert, glauben die staatlichen „Sexu§l- Koffer“ sich im wesentlichen auf die Darstellung der physischen, physiologischen Befunde, auf die Darstellung von Techniken und Sexualpraktiken in vermeintlicher Wertfreiheit beschränken zu können.

Einer rigid kirchlichen Sexuallehre wird vorgeworfen, daß sie die Fragen der Moral und Sittlichkeit ausschließlich auf den Bereich der Sexualität konzentriere. Tatsächlich wird manchmal übersehen, daß die Ursünde des Menschen nicht die Unkeuschheit, sondern die Sünde des Stolzes ist.

Eine besorgte Kirche und mit ihr eine breite Öffentlichkeit fühlt sich allerdings dadurch provoziert, daß die Propagandisten einer normfreien, enttabuisier- ten, lustbetonten Sexuallehre diese als Vehikel einer radikalen Gesellschaftsveränderung benützen: für eine Gesellschaft, der der Begriff von Pflicht suspekt ist; die sich antiautoritär begreift; der das Bewußtsein von Schuldigwerden fremd ist.

Diese Gesellschaft kennt weder das Scheitern noch die große Leistung und sie leugnet damit die Kreatürlichkeit des Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit.

Das Grundgebot eines christlichen Lebens heißt, Gott aus ganzem Herzen zu lieben. Und diesem gleich: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Eine christlich verstandene Sexualmoral hätte unter diesem Gebot ihren normativen Anspruch zu begründen — auch und gerade in einer Gesellschaft mit pluralen Wertvorstellungen.

Sexualerziehung muß ihre Norm in der unaufgebbaren Anerkennung der Menschenwürde sehen. Das ist keine hohle Phrase, sondern Ausdruck eines „kategorischen Imperativs“, den anderen als Zweck seiner selbst zu achten, und ihn nicht als Mittel für subjektive Wünsche und egoistische Befriedigung zu gebrauchen. *

Wenn anerkannt werden muß, daß Sexualität den Menschen in der Weise definiert, daß jeder Mensch mit seiner Sexualität verantwortlich umzugehen hat, dann entlarvt sich die Rede von der sogenannten wertneutralen Aufklärung als Irreführung.

Wer glaubt, in wertneutraler Objektivität Techniken sexueller Praxis vermitteln /zu können, der macht den je eigenen Lustgewinn zur maßgebenden Norm. Wer eine Technik vermittelt, vermittelt gleichzeitig die Tendenz zu ihrer Anwendung.

Sexualerziehung betrifft auch den Umgang mit sich selbst. Auch hier gilt das Gebot, sich selbst nicht als Mittel für Zwecke, die dem Personsein fremd sind, zu mißbrauchen. Wer solche Praktiken (wie der Medienkoffer es tut) empfiehlt, fördert die Neigung zum Opportunismus.

Denn dieser ist auf seine Weise immer der Mißbrauch seiner selbst aus egoistischen Neigungen: Sei es die Lust am ökonomischen Zugewinn, an Macht, an sozialem Prestige.

Sexualerziehung ist wie alle pädagogische Führung Hilfe zum Selbständigwerden. Allerdings kommt ihr ein besonderer Stellenwert zu. Sexualität betrifft die persönlichste und in der erfüllten Liebe die tiefste Möglichkeit im Erleben des Selbst- und Mitseins.

In diese Begegnung ist gleichzeitig das Zeugen menschlichen Lebens gebunden. Ihr ist die Fortexistenz der Menschheit anvertraut. Das unterstreicht noch einmal die Verantwortung, auf die alle Sexualerziehung verwiesen ist.

Allerdings sollte in der Sexualerziehung bedacht werden, daß sich hier Gefühl und Sehnsucht, Betroffenheit und Leidenschaft auf vielfältige Weise verschlingen. Daher verbindet der Mensch mit der Sexualität seine tiefsten Hoffnungen auf Glück, Wärme und Zärtlichkeit. Das Mißlingen ist weniger durch Bosheit als durch Schwäche, weniger durch berechnenden Mißbrauch als durch spontane Unbesonnenheit bedingt.

Das widerruft nicht die Verantwortung — vor allem nicht der Erziehung. Das sollte aber die Notwendigkeit des Verstehens verdeutlichen und gleichzeitig darauf verweisen, daß allzu grelle Öffentlichkeit der Sexualerziehung nicht bekommt.

Der Autor ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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