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Wesentlich leben

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Der bekannte deutsche Psychiater DDr. Affemann entwarf in einem Vortrag vor der Katholischen Aktion eine Skizze von erfülltem Leben, die hier auszugsweise wiedergegeben wird. Seine vorhergehende Analyse der heutigen Situation brachte DIE FURCHE in Nr. 42. Gefühlsarmut und gestörte Beziehung zum Mitmenschen sind demnach Hauptursachen für unsere Probleme.

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Der bekannte deutsche Psychiater DDr. Affemann entwarf in einem Vortrag vor der Katholischen Aktion eine Skizze von erfülltem Leben, die hier auszugsweise wiedergegeben wird. Seine vorhergehende Analyse der heutigen Situation brachte DIE FURCHE in Nr. 42. Gefühlsarmut und gestörte Beziehung zum Mitmenschen sind demnach Hauptursachen für unsere Probleme.

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Das Ziel sollte sein: wesentlicher leben; wesentlicherleben lernen. Das ist eine Aufgabe für das Leben jedes einzelnen. Ihm fällt ferner die Verantwortung zu, Soweit seine Möglichkeiten reichen, den Menschen seiner Umgebung hiebei zu helfen. In kleinen Gruppen sollte versucht werden, wesentlicher zu werden. Und weil Leben nicht auf einer Insel möglich ist, sondern von den Bedingungen in Gesellschaft und Staat abhängt, bedeutet dies: wollen wir dazu beitragen, daß Einzelmenschen wesentlicher werden können, so gilt es die Verhältnisse im Gemeinwesen so zu formen, daß dies möglich ist. Änderungen des einzelnen und Änderung der Gemeinschaft müssen Hand in Hand gehen.

Was heißt aber: wesentlicher werden? Was ist das Wesen des Menschen? Es ist deutlich, daß dies ein Bild vom Menschen, eine Leitvorstellung von seinem Leben voraussetzt. Den Menschen kennzeichnen wesentlich Individualität, Sozialität und nach der Überzeugung des christlichen Glaubens - seine Bezogenheit auf Gott. Wesentlich wird der Mensch demnach, wenn er sich in dieser Weise entfaltet…

Was bedeutet Individualität? Sie meint die einmalige, unaustauschbare Wesensart des einzelnen. Sie umfaßt seine unverwechselbar einzigartige Leiblichkeit, seine Seele und seinen Geist. Diese Ganzheit soll der Mensch auf je seine Weise zur Verwirklichung bringen. Er soll ein voller, ein ganzer Mensch werden und muß dabei gegen die mächtigen Ströme, die ihn entpersonalisieren, normieren, vereinheitlichen wollen, anschwimmen. Das verlangt ein hohes Maß an Stabilität.

Was bedeutet Sozialität? Der Sozialcharakter des Menschen gibt zunächst einmal an, es sei die Aufgabe des einzelnen, sich nicht im Selbstgenuß um die eigene Achse zu drehen - so ähnlich wird ja heute weithin Selbstverwirklichung verstanden. Was dem Menschen an Gaben zugefallen ist und zuwächst, soll er vielmehr in den Bezug zum Gegenüber hineinnehmen, in den Dienst der Gemeinschaft stellen. Entfaltung des Sozialcharakters setzt freilich voraus, daß dem einzelnen verläßlich Zuwendung von anderen Menschen zuteil wird…

Was bedeutet Bezogenheit auf Gott? Wir Christen meinen, daß der Mensch, ob er es will oder nicht, ob er es wahrhaben will oder es bleiben läßt, in ein Verhältnis zu Gott hinein-

geboren ist. Er ist dazu bestimmt, sich diesem personalen Gott zu öffnen, sich also für dessen Einwirkungen auf ihn offenhalten, ihm Vertrauen zu schenken. Nur in dem Maße, in dem das möglich ist, gerät er in Übereinstimmung rni,t,sich selbst, und findet dabei seinen inneren Frieden.

Offenheit zu Gott verlangt Vertrauen. Damit dies möglich wird, muß bereits in der frühen Kindheit das in jedem Menschen angelegte Urvertrauen geweckt, gefördert, herausgefordert werden. Erziehüng des und Erziehung zum Vertrauen ist ein zentraler Bestandteil jeder Pädagogik. Unsere Beziehungen - z. B. im Bildungswesen - sind daraufhin abzuklopfen, inwieweit sie verrechtlicht sind und inwiefern sie sich auf Vertrauen gründen. Je stärker die Verrechtlichung von zwischenmenschlichen Beziehungen, um so mehr entstehen Mißtrauen, Sicherheitsdenken und Anspruchshaltung. Soll der Mensch es lernen, auf Gott zu vertrauen, so muß er Vorerfahrungen mit vertrauenswürdigen Menschen machen…

Wer so lebt, wer also seine Individualität, die Sozialität verwirklicht, wer versucht, sich Gott offenzuhalten, der lebt wesentlich. Viele Störungen der Innenwelt können sich bei dieser Art des Menschwerdens nicht ausbreiten. Weü wesentliches Leben wirkliches Leben darstellt, kann auf die Ersatzerfüllurigen eines extravertierten, expandierenden, übermäßig konsumierenden Lebens verzichtet werden. Wer auf diesem Wege er selber wird, ist erfüllt von einem Selbst gefühl, das aus ihm herauswächst. Es ist folglich nicht nötig, sich selbst und sein Selbstgefühl durch äußere Erfolge, Statussymbole und ähnliches zu erzeugen …

Wie kommt diese Art von Leben, diese Art von Menschwerden zustande? Es muß gesagt werden, daß zu Selbstfindung ein gewisses Maß von Konsumverzicht hinzugehört. Nur wenn Spannungen vorhanden sind, die wesentlich auch auf Bedürfnisaufschub und Bedürfnisverzicht zurückgehen, ist eine Ausreifung des im Menschen angelegten Potentials möglich. Bei vielen Kleinigkeiten des Alltags sollte dieser Konsumverzicht geleistet werden …

Wesentlich leben und wesentlich werden bedeutet ferner: sich selbst nicht auszuweichen. Jeder von uns hat so seine Abwehreinrichtungen sich selbst gegenüber. Sie dienen dazu, jene Seiten von uns selbst, die nicht mit unserem Idealbüd übereinstimmen, von unserem Bewußtsein fernzuhalten. Gerade im Erleiden unserer vorläufigen, schwachen, unreifen Seiten wachsen wir jedoch. Wir sollten uns folglich Gedanken darüber machen, wo und wie wir uns selbst ausweichen. Menschen, zu denen wir Vertrauen haben, sollten uns sagen, wo wir ihres Erachtens den Kopf in den Sand stecken und uns selbst ein Theater vorspielen.

Diese Ehrlichkeit und Offenheit sich selbst gegenüber ist wiederum nur möglich in einer Haltung des Verfreuens. Man kann sich seine dunklen Seiten nur eingestehen, wenn man fühlt, daß man trotz seiner Schattenseiten angenommen wird.

An dieser Stelle ist jeder Christ dazu aufgerufen, seinen Mitmenschen zu akzeptieren, auch wenn er durch dessen Fehler und Mängel enttäuscht wird. Je mehr diese annehmende Haltung durchgestanden wird, bei der Fehler und Schwäche gerade nicht bagatellisiert, sondern durchaus ernst genommen werden, um so eher kann der Betroffene lernen, auch seine Vorläufigkeiten mit in sein Leben hineinzunehmen. ‘

Die Frage ist nur, inwieweit wir den anderen lieben können, wenn er von dem Büd, das wir uns von ihm gemacht haben, abweicht…

Mit diesen Fakten: Annehmen, Vertrauen, Liebe, wurden entscheidende Voraussetzungen von Menschwerdung angesprochen. Wir können nur hoffen, daß es uns möglich ist, dies zu erfahren, ebenso wie wir hoffen können, daß es uns möglich ist, dies weiterzugeben.

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