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Westbahn

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ein Kopfbahnhof, das Wort hat sich mir sofort eingeprägt, beim ersten Hören, ein Kopfbahnhof weckt das Gefühl von Großstadt, Kopfbahnhöfe gibt es sonst nur in Großstädten, Gare de l'Est, Gare du Nord, Gare d'Au-sterlitz, Wien Westbahnhof, Südbahnhof, Franz-Josephs-Bahnhof, der wird jetzt abgerissen, der Nachtzug nach Berlin fährt hinter der Bauplanke weg, unter freiem Himmel, Ankunft Berlin Ostbahnhof, Bahnhof Zoo, München Hauptbahnhof, Stazione Termini,

alles Kopf bahnhöfe, aber hier mitten im Land, sozusagen auf offener Strek-ke, als Kopfbahnhof nur für den Binnenverkehr, in Richtung Schwarzach/St. Veit, die Auslandszüge fahren durch, in Richtung Freilassing, in Osaka werden die Sitze einfach umgedreht, zur Rückfahrt nach Tokyo, so weiß man auch: jetzt bin ich in Osaka angekommen, man kann ja nichts lesen, die Auslandszüge fahren durch, auch die Korridorzüge über Rosenheim, kern Lokwechsel, hineinfahren, stehenbleiben, weiterfahren, Bahnsteig 1 oder 2 oder 3 oder 10, wie in einer kleinen HaltesteUe, ohne Bahnhofsgebäude, ohne Schalter, eine Bretterhütte zum Unterstellen, ein Brett hängt schief weg, der Wind pfeift herein, Wartesaal, aber es riecht nicht nach Wartesaal, Frischluft, daneben die löchrige Asphaltstraße mit einem Buckel in der Mitte,

ein schienengleicher Bahnübergang, jetzt sind bei schienengleichen Bahnübergängen Betonplatten verlegt, die Zahnradbahn in Puchberg am Schneeberg, an einer Stelle kreuzt sie die Fahrbahn, die Straße nach Losenheim, die Zahnstangen hegen über dem Straßenniveau, man muß die Rampe schräg anfahren, die vier Räder holpern einzeln über den Buckel, ohne Schlagbaum, mit Schlagbaum, ohne Gehänge, kann man es Schranken nennen, vor unbeschrankten Bahnübergängen die Tafel halt wenn ein Zug kommt, früher viel laxer: man konnte zum Fahrlehrer sagen, das ist eine Stoptafel, heute ist der vorgeschriebene Ausdruck auswendig zu lernen: Halt vor Kreuzung,

die internationalen Stoptafeln sind nicht rund sondern achteckig, |sind neue Verkehrszeichen dazugekommen, es gibt noch keine eingefärbten Asphaltdecken, das rechteckige Einbahnschild senso unico, man muß von Zeit zu Zeit wieder ein Auto lenken, die Reaktionen verlernt, die Bahnbaken, in welchen Abständen, drei Schrägstriche, zwei Schrägstriche, ein Schrägstrich, die Schranken,

das sieht komisch aus: im Zug an einem geschlossenen Halbschranken vorbei, im unverbauten Gebiet, hinter dem Schranken steht nichts, keine Autos, kein einzelner Traktor, eine Spielzeuganlage, am Checkpoint Charlie kann man nur in Schlangenlinie durchfahren, man muß, zwischen großen Betonklötzen, bei der Kontrolle in Ceske Velenice gleich hinter Gmünd stehen Bewaffnete zu beiden Seiten des Zugs, die Soldaten gehen mit einer kleinen Leiter durch die Gänge und öffnen die Deckel der Lampenkästen,

in Probstzella wird ein Spürhund unter den Waggons durchgeführt, auf dem Bahnhofsgebäude in mehreren Sprachen die Aufschrift Frieden und Freundschaft, die nächtlichen Patrouillen am Bahnhof HaUe an der Saale, alle fünfzig Meter steht ein Posten neben dem Zug, Republikflucht, jemand tut seinen Dienst, die drohende Gewaltanwendung, auf Seiten der Polizei, die Karriere der Grenzbewohner, die Schranken werden streng geprüft, den ganzen Tag geht in der Ecke der Montagehalle ein Schranken auf und ab und auf und ab, Eisenbahnsicherung, die früheren Südbahnwerke sind von einem multinationalen Konzern aufgekauft worden, der Konzern erzeugt auch Abhörgeräte, anderswo, es gibt jetzt kein Gegengewicht am kurzen Hebelarm mehr, der Ausgleich erfolgt durch eine Feder, die elektrischen Schranken sind einarmige Hebel, zwei Tage Weichenprüfung, als Hilfskraft des Revisors, der Meister trägt die KUopondwerte in ein Buch ein, auf Druck und auf Zug, elektrisch und von Hand, die folgenden Tage Muskelkater, die Weichenstellwerke sind in einer langen Reihe aufgebockt, die Federwaage muß von einer Weiche zur nächsten weitergeschoben werden, festschrauben, kurbeln, umlegen, wieder kurbeln, anklemmen und abklemmen, der Meister legt selbst mit Hand an, zuerst interne Uberprüfung, dann dieselbe Prozedur in Anwesenheit des ÖBB-Beamten, des Einkäufers, die Weichenstellwerke werden umgerüstet, im Bahnhofsbereich sieht man die neuen neben den alten Kästen liegen,

Bahn und Post gehören zu unseren größten Auftraggebern, sagt der Meister, Schaltzentralen für die Fernsprechvermittlung, kommunistischen Betriebsrat gibt es in diesem Werk keinen, der Redakteur der Volksstimme, durch das Fenster der Lagerhalle sehe ich den Kulturredakteur der Volksstimme, er steht auf der Verkehrsinsel der Straßenbahnhaltestelle Traisengasse, dreht sich dann und wann in Richtung Traisengasse um, er ist korrekt gekleidet, die Brechtaufführungen des Burgtheaters, er hat sie scharf kritisiert, hier fehlt doch der Schluß, die Knechte ihre eignen Herren, freundlich und eloquent, er hat dichtes Haar, 1968 nicht aus der KPÖ ausgeschlossen, das wundert mich auch, sagt ein ehemaliges Parteimitglied, er hätte damals eigentlich gehen müssen,

ein Jugoslawe wird wieder einge-steUt, obwohl er unentschuldigt der Arbeit ferngeblieben ist, um den Posten des obersten Lagerleiters entsteht ein Gerangel, der Mann, der als Sieger hervorgeht, sieht dem Wiener Bürgermeister ähnlich, entfernt, derselbe Typ, er ist fesch, ein Arbeiter aus der DDR erzählt von einer privaten Bierbrauerei in Radebeul, oder doch nicht Radebeul, vielleicht Gera, Vater schreibt den Kriegskameraden in der DDR Weihnachtskarten, am unteren Kartenrand steht Brief folgt, es war das beste Bier und der Chef hatte gute Beziehungen zur Partei, wenn die Regierung das Bier verschlechtert, sagt Milan, sitzt sie nicht mehr lange im Sattel, die Maoisten verteilen Zeitungen vor den Fabrikstoren, oder sind es die Trotzkisten, oder ist es eine Abspaltung der Gewerkschaftlichen Einheit,

der Zentralbetriebsrat notiert vor Weihnachten die Bestellungen von verbilligten Radio- und Fernsehgeräten, ich fahre jedes Jahr nach Litschau in Urlaub, sagt der Meister, man steigt in Gmünd um, in eine Schmalspurbahn, ein Ast nach Heidenreichstein, einer nach Litschau,

auch an diesem Bahnhof steht ein Lagerhaus, das sind die modernen Bauernburgen, sagt Fritz, die Silos über den Lagerhäusern, wülst du zur Aussichtsplattform hinauf, wenn das Getreide zu feucht ist, über 14 Prozent, sagt er, dann muß ich Trocknungsgebühr zahlen, das bringt mich um einen Teü des Ertrags, zum richtigen Zeitpunkt der Mähdrescher, darauf kommt es an, ein Lohndrescher fährt viel zu schnell und gibt zu viel Wind, das bläst die Körner heraus, lieber einen kleinen eigenen, sagen sich viele, die Vorteile des Maschinenrings, bring das erst einmal in diese Köpfe hinein, werfen wir das Schleifholz hierher, sagt Fritz, neben dem Bahnhof ist eine automatische Schälanlage in Betrieb genommen worden, Graf Seüern hat Wald verkaufen müssen, nach irgendeiner Transaktion, mein Vater der Bürgermeister, sagt Fritz, er hat die Bauern von Leopoldsdorf dazu gebracht, daß sie den Wald kaufen, Herrenwald, Stiftswald, Bauernwald, die Spuren auf den geschälten Stämmen wie die Farbstreifen um den Mikado,

ich hatte schon vor der Revision mit Weichenteüen zu tun, im Halbfertiglager, ohne zu wissen, wozu die Stücke gut sind, als Aushilfskraft auf Zeit, die fixen Arbeiter bleiben lange auf demselben Platz, einer hat sein ganzes Leben im Lager verbracht, der Betriebsrat klopft ihm zur Pensionierung auf die Schulter, schau daß aUes in Ordnung geht, sagt der Pensionist zu seinem Nachfolger, der Nachfolger ist ein abgeschobener HUfsmonteur,

der Pensionist wird während der Weihnachtsfeier verabschiedet, ich trage den Geschenkkorb der Belegschaft durch das Stiegenhaus, der große Gott kann nicht dauernd bei euch vorbeikommen, sagt der oberste Chef, trotzdem seid ihr nicht vergessen, gesegnete Weihnachten, die Lagerleiter sind wie ausgewechselt, ihre Haltung wenn der Boß kommt, er schaut jedem in die Augen, ein kräftiger Händedruck, ich habe die Schizophrenie, sagt der Hilfsmonteur, das sagen die Ärzte, er sagt es wie ,ich habe Schnupfen',

im Rahmen der Personaleinsparung entlassen, als Werkstudent hat man gut verdient, 300 Schüling im Tag und das Mittagessen, am Freitag Frühschluß, das heißt um eine Stunde früher, 1974, vor der Krise, die fertigen Weichenstellkästen wurden nebeneinander auf Paletten gelegt und in Regalen abgestellt, auf Normpaletten der Bundesbahn, zum Abholen bereit,

jeden Tag in der Kantine dieselben Gesichter, man wird auch selbst so gesehen, mehrere Eßturnusse, wenn möglich auf dieselben Plätze, die Stammplätze, ein kurzer mißmutiger Bück wenn schon jemand dortsitzt, die Frauen in der Reihe vor der Essensausgabe werden gemustert und zeigen sich, es fällt auf, wenn eine etwas anderes als am Vortag anhat, das schönste Mädchen sitzt in einem der Chefzimmer, dieser Kollege ist homosexuell, sagt jemand, hat er dir noch keinen Antrag gemacht, er holt sich vom Westbahnhof junge Männer nachhause, auf einer Fahrt mit dem Auto nach Kärnten, nach St. Veit an der Glan, dort steigt der ArbeitskoUege in die Bahn nach VUlach, er verschwindet einen Tag vor der Promotion spurlos, die Verwandten werden in die Universität bestellt, morgen findet überhaupt keine Promotion statt, sagt die Tele-phonistin, es muß sich um einen Irrtum handeln, man vermutet ihn auf der Fahrt nach Schweden, oder nach Südafrika, das ist schön: aus einem weitläufigen Bahnhofsgelände hinausfahren, der Zug treibt noch unentschlossen hin und her, einmal Ruck nach rechts, einmal Ruck nach links, er sucht seine Spur, plötzlich ist die Richtung da, die SteUwerkstürme fallen zurück, die Lok zieht stark an, jetzt beginnt die Fahrt

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