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Wichtiger als Werte ist der Lebenssinn

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„Jour fixe“ mit Prof. Wolf gang Kraus: „Das Leiden am sinnlosen Leben“ stand jüngst in FS 1 zur Debatte. Univ.-Prof. Viktor E. Frankl, Lehrkanzelinhaber für Logotherapie („Heilung durch Sinngebung“) in den USA, sparte mit provokanten Formulierungen nicht. Die FURCHE bringt im folgenden einen behutsam redigierten Auszug aus dem Gespräch.

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„Jour fixe“ mit Prof. Wolf gang Kraus: „Das Leiden am sinnlosen Leben“ stand jüngst in FS 1 zur Debatte. Univ.-Prof. Viktor E. Frankl, Lehrkanzelinhaber für Logotherapie („Heilung durch Sinngebung“) in den USA, sparte mit provokanten Formulierungen nicht. Die FURCHE bringt im folgenden einen behutsam redigierten Auszug aus dem Gespräch.

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FRANKL: In der Konsumgesellschaft geht ein Bedürfnis leer aus, das zutiefst menschliche Bedürfnis, einen Sinn im Leben und in jeder einzelnen Lebenssituation zu sehen und diesen Sinn zu erfüllen. Es ist das, was ich in einem Buchtitel den „Willen zum Sinn“ nenne. Der Mensch ist darauf aus, ob er es bejaht oder verdrängt, im Leben eine Aufgabe zu sehen, sich hinzugegeben an eine Sache oder eine andere menschliche Person. Er ist ein Wesen, das über sich selbst hinausgeht. Dieser Grundzug seiner Existenz wird heute allenthalben frustriert.

Wer einen Sinn findet, ist bereit, Verzicht zu leisten und Opfer zu bringen,

ein Leiden auf sich zu nehmen oder sogar sein Leben einzusetzen. Wenn der Mensch keinen Sinn findet, dann schmeißt er dieses Leben weg. So nur können Sie die Zunahme der Selbstmorde in der Wohlstandsgesellschaft Europas und Amerikas erklären. Und es ist nachgewiesen, daß Selbstmorde auf dieses abgründige Sinnlosigkeitsgefühl zurückgehen.

KRAUS: Ist es nicht auch die Frage, welchen Sinn man wählen soll? Es gibt doch verschiedene Sinne und Inhalte und man kommt leicht in einen Konflikt der Sinngebungen …

FRANKL: Stimmt. Deswegen stehen heute so viele Menschen ohne Werte da, weil die Werte durch Traditionen vermittelt werden, die Traditionen aber zerbrechen, zerbröckeln. Neben den Werten, die als etwas allgemein Verbindliches aufgefaßt werden müssen, steht der Sinn. Der Sinn ist nie universal, der Sinn ist immer unikal, immer der Sinn hier und jetzt, in einer ganz konkreten Situation. Der Sinn ist für jeden in jedem Augenblick ein anderer.

Aber auch dort, wo es noch Restwerte gibt, fragt sich der junge Mensch heute: Wozu soll ich Werte verwirklichen? Ich will damit sagen, daß die Sinnfrage die umfassendere, die radikalere ist, und daß gerade die Jugend darunter leidet. Der junge Mensch will selbst seinen spezifischen Sinn finden und nicht einen solchen von Traditionen ausgehändigt bekommen.

Deshalb müßte man diesen jungen Menschen sagen: Es ist sehr schön, daß ihr den Mut habt, diesen Sinn zu suchen, aber paart doch diesen Mut mit Geduld! Menschen werfen ihr Leben Weg, weil sie darin keinen Sinn sehen. Aber wer wagt es zu sagen, daß ihnen nicht eines Tages dieser Sinn aufdämmern könnte? …

KRAUS: Aber ist es nicht unendlich schwierig, einfach zu vertrösten: Habt Geduld!?

FRANKL: Es läßt sich wissenschaftlich nachweisen, daß der doktrinär unverbildete, einfache, schlichte Mensch sehr genau weiß: Mensch sein heißt, hineingestellt zu sein in eine Welt, die in jedem Augenblick ein Fordern an mich stellt. Diese Forderung zu erfüllen, heißt glücklich zu werden. Da gibt es drei sinnvolle Wege: Ich kann meinem Leben Sinn geben, indem ich eine Tat setze oder indem ich etwas erlebe (das Schöne, das Wahre, das Gute) oder indem ich einen einzigen Menschen in seiner Besonderheit erfahre, also indem ich liebe.

In der Arbeit und in der Liebe kann ich Sinn finden. Aber letzten Endes, und das weiß der Mann von der Straße genau, kann ich Sinn auch finden als hilfloses Opfer einer hoffnungslosen Situation. Nur der Mensch ist dazu fähig, das Leiden in eine menschliche Leistung zu transformieren oder eine persönliche Tragödie in einen persönlichen Triumph zu verwandeln.

KRAUS: Gibt es den einfachen Mann von der Straße überhaupt noch?

FRANKL: Die einfachen Menschen haben ein Verständnis dafür. Man muß nur verständlich sprechen, in der Sprache von heute, die auch der einfache Mensch spricht. Irgendwie ist letzten Endes die Wahrheit einfach. Man muß nur auf Kauderwelsch und Fachlatein verzichten. Man muß es aufgeben, mit Formulierungen imponieren zu wollen.

KRAUS: Aber liegt nicht das Problem gerade bei den Intellektuellen, die an den Schalthebeln sitzen und Unruhe, positive wie negative Unruhe, unter das Volk bringen?

FRANKL: Nehmen Sie die Massenmedien: Man glaubt, daß der Mensch nichts versteht, nichts verstehen kann, und füttert ihn mit primitivster Kost. Dadurch erst verblödet man das Pu-

blikum, weil man es für blöd hält, es unterschätzt…

Es ist auch nicht wahr, daß man die Freiheit hat, alles zu sagen oder gar, daß man alles sagen muß. Freiheit ist nur die eine Seite des totalen Phänomens, dessen andere Seite Verantwortung heißt.

Wo aber bleibt die soziale Verantwortung des Schreibenden, des Künstlers von heute? Die Kunst, die Literatur, hätte eine therapeutische Chance, um nicht zu sagen: Mission. Sie geht an dieser Chance vorbei, und statt Therapie zu sein, ist sie vielfach Symptom ihrer eigenen Leere und vom eigenen Sinnlosigkeitsgefühl des Schreibenden. Den Schreibenden geht es nicht darum, den T ęnschepęū’h įfęn,. sondern sie wollen nur sich selbst darstel-

len. Statt daß sie versuchen, die Menschen zu immunisieren gegen Nihilismus und Zynismus, infizieren sie diese womöglich noch damit.

KRAUS: Aber sind denn die Dichter nicht überfordert in unserer Zeit des Chaos der Werte? Die heutigen Künstler schreiben doch vielfach aus einer echten, ehrlichen Situation der Verzweiflung heraus …

FRANKL: Ich hatte einen Vortrag zu halten in einem Gefängnis mit Massenmördern, dem berüchtigten Zuchthaus von St. Quentin. Die Psychologen, die den Gefangenen jeden Monat dort einen Vortrag halten, hängen den Leuten schon beim Hals heraus. Diese Leute sagen: „Immer wieder die Kindheitserlebnisse, immer wieder die Traumata, die man uns als Ursache unseres Verhaltens einredet! Wir wollen das nicht mehr hören! Der Frankl aber, der hat uns als Menschen angesprochen und gesagt: ,Ihr seid menschliche Wesen und als solche habt ihr die Freiheit gehabt, einen Blödsinn zu begehen, eine Untat. Aber vergeßt nicht, jetzt habt ihr die Verantwortung, über diesen Unsinn hinauszuwachsen und anders zu werden!1 “

Damit habe ich die Leute gepackt. Der große Philosoph Max Scheel hat einmal gesagt, der Verbrecher habe einen Anspruch darauf, bestraft zu werden. Wenn das nicht geschieht, dann hat er ja das Gefühl, er wird als Mensch nicht ernst genommen, sondern nur als eine reparaturbedürftige Maschine behandelt. Hier müßte die Humanisierung des Strafvollzugs beginnen, indem man auch den Kriminellen als Mensch ernst nimmt und ihm nicht ständig Alibis für seine Tat zu liefern versucht!

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