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Wider die Verzweiflung

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Die weltumspannende Krise der Gegenwart zwingt uns, immer wieder nach Hilfe und Halt auszuschauen, um nicht angesichts einer scheinbar völligen Sinnlosigkeit des Daseins im Abgrund des Zweifels und der Verzweiflung zu versinken. Wir fragen uns: Wie ist denn der Mensch anderer Jahrhunderte, die gleichfalls bis in die Grundfesten erschüttert waren, mit den Fragen nach dem Sinn seines schweren Schicksals fertig geworden?

Bei der Ausschau nach solchem Halt kann uns ganz besonders Albrecht Dürer helfen, der von 1480 bis 1525 seine großen Werke schuf. Er lebte in einer außerordentlich bewegten Zeit. Das Mittelalter ging zu Ende und eine neue Epoche war im Aufstieg, die sich nicht nur in grundstürzenden Entdeckungen und Erfindungen kundtat, sondern ebenso durch beginnende politische, soziale und religiöse Kämpfe, die Europa bis ins Innerste aufwühlten.

Unter dem Einfluß der Renaissance, des Humanismus und der neu entstehenden Naturwissenschaft erfüllte damals den Menschen der titanische Glaube, er könne aus eigener Kraft und Vernunft die Rätsel des Daseins meistern, die Geheimnisse der Schöpfung, der Geschichte und des menschlichen Herzens enthüllen und so letzte, sinnvolle Befriedigung für dieses Leben finden. Diesem titanischen Traum tritt im Jahre 1514 Albrecht Dürer in seinem Kupferstich „Melancholie“ entgegen.

Was sieht man auf diesem Bild? Eine geflügelte Menschengestalt, deren Schwingen das himmelstürmende Streben versinnbildlichen, sitzt in tiefer Schwermut versunken vor all den Werkzeugen, die Mittel für die Erfüllung des höchsten Menschentraumes sein sollten. Man sieht ferner einen schlafenden Hund und einen spielenden Engel. Rechts hinter der Flügelgestalt erblickt man einen Turm mit Leiter, Stundenglas, Waage, einem Glöcklein und einer Zahlentafel. Links im Hintergrund geht der Blick über ein Meer, über dem ein Licht aufblitzt, in dessen Schein der Drache „Melencolia“ in rasender Flucht davonstürzt. Über der Stadt am Ufer und dem Meer leuchtet ein Regenbogen.

Versuchen wir den Sinngehalt dieses Bildes uns zu vergegenwärtigen, indem wir die geflügelte Gestalt ein Selbstgespräch führen lassen:

„Der Drache Melencolia frißt an meinem Herzen, das einst von den höchsten Hoffnungen geschwellt war. Ach, wie schmählich sind alle Träume ins graue Nichts zerstoben! Mein Geist ist von tiefer Trübsal umdüstert, weil alles Mühen, Forschen und Ringen bis zu dieser Stunde vergeblich gewesen ist.

Ihr Werkzeuge um mich, Winkelmaße, Elle, Hobel, Zange und du, Kugel, Inbegriff meiner Sehnsucht nach dem Geheimnis der Vollendung und Vollkommenheit, ihr habt alle jämmerlich versagt! Ich bin dem Urquell des Lebens und dem Ursprung der Schöpfung nicht um einen Schritt nähergekommen.

Und du, Buch in meinem Schoß, sorgsam habe ich Blatt um Blatt gelesen. Aber die Weisheit den alten Meister hat mich nur bis in den Vorhof geführt. Ebensowenig wie ich fanden sie den Schlüssel, der die Pforte zum letzten Geheimnis öffnet. Nun bin ich des Studierens müde geworden und muß der Worte des alten Predigers gedenken: ,Wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens, und wer viel lernt, der muß viel leiden.’

Wie oft stieg ich in der Nacht auf jener Leiter zum Turm hinauf, um staunend und grübelnd den Gang der Gestirne zu beobachten! Aber mein Geist hat nicht vermocht, den Stern der Sterne zu finden, um den die himmlischen Lichter ihre feierlichen Bahnen ziehen. Je mehr ich mich in den Anblick des sternenübersäten Nachthimmels vertiefte, um so mehr empfand ich mich als Wurm, der vor der Größe der Welt in Nichtigkeit erschauert. Weiß jenes allerhöchste Wesen überhaupt etwas von meinem Dasein? Hat es Zeit, sich um mein Schicksal zu kümmern? Vielleicht sieht es nur in erhobener Teilnahmslosigkeit dem großen Schauspiel der Welt zu, ohne Herz für unser Leid und unsere Sehnsucht!

Ach, was helfen mir die Flügel, die meinem Geist gewachsen sind! Wie weit ich auch flog, ich konnte das Meer der Unendlichkeit nicht überfliegen und das andere Ufer erreichen. Ob mich meine Schwingen hinaufhoben in die höchste Höhe oder hinabtrugen in die tiefste Tiefe, die Wahrheit blieb mir dennoch versagt.

Und bin ich dem Geheimnis der Zeit nähergekommen? Zeigt mir die Sanduhr dort die Stunden an, die zum Handeln die rechten sind? Ach, jedes Korn, das im Grase rinnt, gleicht dem andern, und nur durch mein Wagnis bekommt ein .Körnlein Zeit’ besondere Farbe, Gewicht und Sinn. Kann ich die Stunden, die als Meilensteine an der Straße der Geschichte stehen, voraussagen? Weiß ich die Zeiten, in denen die Völker kommen und gehen, die Weltreiche wachsen und stürzen, die Kulturen blühen und welken? Hinter undurchdringlichen Schleiern ist die Weltuhr, den Gang des Geschehens kündend, vor meinen Augen verborgen. Und auch meine letzte Stunde ist mir verhüllt.

Und dort auf jener Tafel mit dem magischen Zahlenquadrat habe ich das Geheimnis der Welt und ihrer Gesetze in Zahlen zu fassen versucht. Nach welcher Richtung hinhaltend.

man die Zahlen auf der Tafel zusammenzählt, immer ergeben sie die gleiche Summe. Welch ein Sinnbild der Harmonie! Aber wo ist diese Harmonie Wirklichkeit? Was ich in der Welt sah und erfuhr, stand in argem Widerspruch zu diesem Ergebnis des Geistes, der die Welt in der Zahl „Eins“ als Einheit sieht und doch diese Einheit vergeblich in der Schöpfung, Geschichte und im eigenen Leben sucht.

Und du, Marmorblock, liegst nutzlos da, denn der Bauplan, für den ich dich verwenden wollte, kam nicht zur rechten Ausführung. Ich wollte aus dir ein Kunstwerk meißeln, das den Menschen, sobald er es anblickt, an seine höchste Bestimmung erinnert. Aber auch diesen Versuch, das göttliche Ebenbild des Menschen zu formen, konnte ich nicht verwirklichen.

Und du, Waage, Sinnbild strenger Gerechtigkeit, hast mich immer wieder schmerzlich daran erinnert, daß auf Erden keine Gerechtigkeit waltet, weil die Waagschale des Bösen allemal schwerer ist als die des Guten. Gibt es denn einen Gott, der in seinen Händen die heilige Himmelswaage des Gesetzes hält und den gerechten Ausgleich schafft, damit die Bösen bestraft und die Guten gesegnet werden?

Alles ringsum ist mir fragwürdig geworden, ich habe keinen festen Boden mehr unter mir. Du, Räucherfaß, wann mögen zum letzten Male aus dir die Wolken des Weihrauchs zum Himmel emporgestiegen sein? Da aber der große Unbekannte stumm geblieben ist, so sind auch die Gebete und Gesänge meines Herzens allmählich verstummt. Vergeblich hat das Geläut des Glöckleins dort an der Wand des Turmes mich zum Gebet gerufen. Jetzt weile ich in der grauen Öde unendlicher Einsamkeit, nur noch mit dem Drachen Schwermut düstere Zwiesprache

Wie beneide ich das Tier zu meinen Füßen! Es kann in seliger Ruhe schlafen, während ich bis tief in den Schlaf hinein von den Rätseln des Lebens verfolgt und gequält werde. Wie beneide ich jenen kleinen Engel! Auch er weiß nichts vom ruhelosen Fragen und brennenden Suchen nach dem Geheimnis der Welt. Ach, jenes selige Wesen braucht überhaupt nicht zu fragen und zu suchen. Spielend schreibt der Engel auf sein Täfelchen das geheimnisvolle Wort vom Anfang, um das ich bereits mein Leben lang vergeblich kreise. Geruhsam sitzt er oben auf dem Rad, das die Welt treibt, auf dem Mühlstein, der das Brot des Lebens mahlt. Er darf mitwirken in der Werkstatt der Welt. Aber ich? Ich bin von ihr ausgeschlossen, und nicht einmal als kleinstes Rädchen im Getriebe der Schöpfung brauchbar.

So hat mein Dasein seinen Sinn verloren. Muß ich nicht mit dem alten Prediger sprechen: ,Es ist alles eitel, es ist alles ganz eitel! Was hat der Mensch für Gewinn von aller seiner Mühe, die er hat unter der Sonne? Darum verdrießt es mich, zu leben, denn es gefällt mir übel, was unter der Sonne geschieht, daß alles eitel ist und Haschen nach Wind!’…

Aber was sehe ich auf einmal! Welch eine ungeheure Erscheinung mitten in der fürchterlichen Finsternis dieser Mitternacht! Was ist das für ein Licht, das dort über dem Meer der Unendlichkeit am Himmel aufflammt und mit seinen Strahlen das grauenvolle Dunkel durchbricht? Das Licht schwindet nicht, ja es leuchtet immer herrlicher, von Augenblick zu Augenblick gewinnen seine Strahlen an Mächtigkeit. Schon fühle ich mich von ihrer Wärme und Liebe umfangen! Sollte jenes Licht der Stern der Sterne sein, um den von Ewigkeit zu Ewigkeit anbetend und jubelnd alle Lichter kreisen? Sollte das die Sonne der Sonnen sein, die ich mein Lebtag gesucht? Sollte das die selige Mitte der Welt sein, aus der auch ich stamme? Sollte sich mir das göttliche Geheimnis in der Mitternachtsstunde meiner tiefsten Not enthüllen nur aus reiner Liebeshuld, um mich dem Drachen der Melancholie zu entreißen?

Und sieh, über die ganze Welt hin, Himmel und Erde, Land und Meer, Mensch und Tier, Engel und Teufel umspannend, steht der Regenbogen, das eine Licht, zerteilt in die heilige Siebenzahl der Farben, Sinnbild des göttlichen Friedens, Inbegriff der Vollkommenheit, Gleichnis der Mannigfaltigkeit und Zeichen der Einheit!

Wo bist du, Drache ,Melencolia’, der mich in der Finsternis umschlich und meine Seele schon in seinen gierigen Krallenfäusten hielt? Von deinem würgenden Griff fühle ich mich wundersam befreit! Getroffen von den heiligen Speeren des göttlichen Lichtes jagst du in rasender .Eile mit angstverzerrtem Gesicht davon, dich in die untersten Abgründe der Hölle zu bergen. Klingt nicht eine göttliche Stimme durch die Mitternacht? Tönt sie nicht aus den Strahlen der Sonne aller Sonnen? Schwingt sie nicht in seligem Farbenspiel des Regenbogens und donnert triumphierend über den finsteren Tiefen der Hölle? Hebe dich hinweg, alte Schlange und Drache der Melancholie! Sei für immerdar gestürzt in den untersten Pfuhl höllischer Finsternis! Und höre ich nicht eine wundersame Stimme, die tröstend und stärkend zu mir spricht?

Du rastloser Sucher nach der

Wahrheit, sei auf genommen in die Schar der Kinder Gottes! Gott läßt sich von denen finden, die ihn von ganzem Herzen suchen. Wider alle Anfechtungen des Drachens der Schwermut sollst du unerschütterlich glauben, daß Licht und Liebe Ursprung der Schöpfung und Sinn des Lebens sind. Und was du jetzt nur stückweise erkennst, einst wirst du es von Angesicht zu Angesicht im Kreise der Seligen schauen und von Ewigkeit zu Ewigkeit anbetend preisen, daß Licht und Liebe das göttliche Geheimnis der Welt sind.“

So mag die geflügelte Gestalt ihr Selbstgespräch geführt haben: Zuerst preisgegeben dem Zweifel und der Verzweiflung und dann triumphierend über alle Dämonen eines verneinenden Geistes! Seitdem jenes Bild von Dürer geschaffen worden ist, haben Naturwissenschaft und Technik ungeheure Fortschritte gemacht. Sind wir aber dieser, in rasendem Tempo geschehenden Fortschritte froh und glücklich geworden? Hat sie nicht der menschliche Geist aus Selbstsucht und Machtgier vor allem für die Zwecke der Zerstörung gebraucht? Erst die moderne Wissenschaft hat ja den Krieg als Mittel gegenseitiger Ausrottung der Völker und erbarmungsloser Vernichtung der Kultur und Zivilisation ermöglicht. Wenn Dürer dieses Bild heute machte, dann ließe er ohne Zweifel die Gestalt vor unendlichen Trümmern und Massengräbern sitzen und ihren Blick in unsagbarer Trauer und Schwermut darüberschweifen.

Mehr noch als das Jahrhundert Dürers ist der Mensch heute dem Ansturm des Drachen „Melencolia“ ausgeliefert und in seinem Gefolge allen lähmenden und bösen Geistern der Verneinung. Hat nicht Schopenhauer, der düstere Philosoph des 19. Jahrhunderts, recht, wenn er klagt, daß diese Welt die denkbar schlechteste aller möglichen Welten sei? Zahllosen Menschen ist es in den Jahren, da die apokalyptischen Reiter vernichtend über die Erde dahingerast sind (bekanntlich hat sie Dürer in seinen Bildern zur Offenbarung Johannis dargestellt), so zumute gewesen, wie dem „Fliegenden Holländer“ Richard Wagners, der nicht mehr leben will und sich nach ewiger Vernichtung sehnt:

Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag,

mit dem die Welt zusammenkracht? Ihr Welten, endet euren Lauf!

Ewige Vernichtung nimm mich auf!

Wir sind alle unter dem Eindruck des furchtbaren Geschehens der Gegenwart anfällig geworden für die müde indische Weisheit der Weltflucht, die bekennt:

Hast einer Welt Besitz du auch gewonnen,

sei nicht erfreut darüber, es ist nichts!

Ist einer Welt Besitz dir auch zerronnen,

sei nicht betrübt darüber, es ist nichts!

Vorüber gehn die Schmerzen und die Wonnen,

geh an der Welt vorüber, es ist nichts.

Aber dieser gefährlichen Weisheit müssen wir unbedingt Tür und Tor unseres Herzens versperren und dürfen ihr in keiner Weise Raum in unserem Denken und Leben gewähren. „Geh an der Welt vorüber, es ist nichts!“ Diese Aufforderung zur Flucht vom Schlachtfeld des Lebens und der Geschichte steht in völligem Widerspruch zur gesamten christlichen Überlieferung des Abendlandes, zu den Bekenntnissen und Taten der größten Geister unserer 2000jährigen europäischen Kultur. Und unter diesen Geistern, die an dem Gesicht Europas in entscheidender Weise geformt haben, nimmt Albrecht Dürer mit seinen Werken einen hervorragenden Platz ein. Wo auch immer er in seinen Bildern das Grauen der Wirklichkeit und die Not des Menschen darstellt, so hört er doch als ein gläubiger Mensch unter dem „Nein der Welt“ das „Ja Gottes“. Als einer der größten Künstler des 16. Jahrhunderts bezeugt er auch für uns gegen alle unsere Anfechtungen der Schwermut und in unserem Kampf gegen Zweifel und Verzweiflung, daß trotz allem Gottes Licht und Liebe Ursprung der Schöpfung, Ziel der Geschichte und der eigentliche Sinn unseres Lebens und unseres Menschentums sind und es immer mehr werden sollen!

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