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Widerstand und Gewalt

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Im meteorologisch „heißen Sommer" wird in der Bundesrepublik laut über den aufziehenden „heißen Herbst" diskutiert. Es geht um die von der Friedensbewegung angekündigten Protest- und, Widerstandsaktionen gegen den NATO-Doppelbeschluß.

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Im meteorologisch „heißen Sommer" wird in der Bundesrepublik laut über den aufziehenden „heißen Herbst" diskutiert. Es geht um die von der Friedensbewegung angekündigten Protest- und, Widerstandsaktionen gegen den NATO-Doppelbeschluß.

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In der mit dem den Deutschen eigenen tierischen Ernst geführten Diskussion fällt die Frage nach der Legitimität des Widerstandes gegen den freiheitlichdemokratischen Staat an sich beziehungsweise gegen die nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip und im rechtsstaatlichen Verfahren gefaßten Beschlüsse auf.

Die Vertreter der Friedensbewegung sehen in der auf dem Gleichgewichtsprinzip basierenden Weiterrüstung eine unmittelbar drohende Gefahr für den Weltfrieden und berufen sich daher auf das alles überragende Legitimitätsprinzip des Lebens. Darum halten sie es für gerechtfertigt, die Spielregeln der parlamentarischen und pluralistischen Demokratie nicht nur in Frage zu stellen, sondern von Fall zu Fall auch zu durchbrechen.

Unter Hinweis auf die überall drohende Gefährdung des Lebens stellen sie die Gültigkeit des demokratischen Mehrheitsprinzips in Frage und erweisen sich damit voll und ganz in der Tradition Herbert Marcuses, des Ideologen der Studentenbewegung von 1968. In seinem Buch „Der eindimensionale Mensch" bezeichnete Marcuse die Gesellschaft als irrational, in der Mehrheitsentscheidungen auf dem falschen Bewußtsein der Mehrheit beruhen. Vielmehr rechtfertigten solche die „strukturelle Gewalt" verfestigenden Mehrheitsentscheidungen „Gegengewalt" und „Widerstandsrecht".

Dieser Konnex überrascht nicht, wenn man sich die Führungsschicht der Grün-Alternativen und der mit ihnen verbundenen anderen sogenannten „neuen sozialen Bewegungen" näher ansieht: Ein hoher Prozentsatz rekrutiert sich aus der 68er Generation.

Ab 1979 gelang es dieser Bewegung in der Bundesrepublik in die Parlamente einzuziehen (Landtage, Europaparlament, Bundestag). Obwohl damit die Akzeptanz des demokratischen Verfassungsstaates bewiesen schien, kam es immer wieder zu Äußerungen prominenter Exponenten dieser Bewegung, die das Gegenteil offenbarten. Ein wichtiger Bereich davon ist eben die Nichtanerkennung demokratischer Mehrheitsentscheidungen zumindest in gewissen Fragen sowie der daraus folgende Widerstand, zu dem auch noch die Frage nach der Gewalt kam.

Darüber gab beziehungsweise gibt es in diesem Sommer eine zum Teil profunde Diskussion, die zeitweise durch andere politische Ereignisse ( Milliardenkredit an die DDR, Strauß-Reise) zu Unrecht überdeckt wurde.

Schon im Jänner dieses Jahres warnte der als liberal geltende Bonner Politologe und Zeithistoriker Karl-Dietrich Bracher „vor den inflationären Widerstandsparolen, die bewußt oder nachlässig den grundlegenden Unterschied zwischen einem Widerstand, der im diktatorischen Un-rechtsstaat kämpft und das Odi-■um der Illegalität auf sich nehmen . muß, und einer wohlfeilen Widerstandsattitüde von Antisystem-opposition und Protestbewegungen im demokratischen Verfassungsstaat verkennen".

Bracher erinnerte - offenbar in Anspielung an die grün-alternative Bewegung — auch daran, daß schon einmal in Deutschland eine Demokratie mit falschen Parolen und fanatischen Ideologen ruiniert werden konnte, weil politischer Wirklichkeitssinn allzu gering ausgebildet war. Widerstand gegen freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie (wo er am leichtesten sei) sei letztlich nicht anderes als antidemokratische Wegbereitung für künftige Diktaturen.

Im Anschluß an den Evangelischen Kirchentag zu Hannover, wo Propagandisten des Widerstandes ein offenes Ohr gerade bei der jungen Generation fanden, meldete sich im Juni der Münchner Politologe Kurt Sontheimer, SPD-Mitglied, zu Wort. Er warnt vor der Mißachtung der politischen Entscheidungen einer durch demokratische Wahlen legitimierten Mehrheit in der Demokratie, die die Funktionsfähigkeit und die Stabilität der demokratischen Ordnung bedroht.

„Die von den protestierenden Ökologen und Pazifisten so gern praktizierte Berufung auf ein höheres, dem demokratischen übergeordnetes Legitimitätsprinzip ist demokratiezerstörend ... und nimmt für sich in Anspruch, das wahre Wissen über die tatsächliche Bedrohung des Lebens in unserer Welt zu besitzen."

Sontheimer sieht in der militanten Demonstrationsbewegung alarmierende Zeichen für eine Veränderung der demokratischen politischen Kultur, in der sich tendenziell totalitäre, zu keinerlei Kompromiß bereite, dem demokratischen System in seiner Gesamtheit opponierende Bestrebungen bemerkbar machen.

Ein „Blut-Attentat" Die Diskussion zum Thema Widerstand mit aktuellem Bezug erreichte naturgemäß in den Tagen um den 20. Juli, dem Gedenken an das mißglückte Hitlerattentat, seinen Höhepunkt. Die Herausgeberin der „Zeit", Marion Gräfin Dönhoff, forderte, daß heute mit dem Begriff Widerstand vorsichtiger umgegangen werden muß. „Es ist einfach anmaßend und irreführend, wenn Hausbesetzer und Demonstranten, die Polizisten mit Pflastersteinen bewerfen oder Schaufenster einschlagen, solche Aktionen als Widerstand deklarieren."

Die Wortmeldungen zweier Theologen, eines katholischen, Franz Böckle, und eines protestantischen, Trutz Rendtorff, zur fast gleichen Zeit im Juli zu diesem Thema verdienen Beachtung.

Der Bonner Moraltheologe Franz Böckle betonte sowohl bei einem Symposion in Walberberg bei Bonn und kurz darauf später bei den Salzburger Hochschulwochen, daß ein Recht auf Widerstand nur in Grenzsituationen in Anspruch genommen werden kann. „Deriiokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen, die sich auf Gerechtigkeit und Recht berufen können, verlangen, gerade von Christen respektiert zu werden. Das gilt besonders für den Fall, daß sie mit dem eigenen Urteil nicht übereinstimmen."

Der Münchner Theologe Trutz Rendtorff verweist auf einen heiklen Punkt protestantischer Tradition. Das Mitziehen erheblicher protestantischer Kreise, manifestiert durch die tätige Mitarbeit vieler Pastoren (ein neuer politischer Klerikalismus, der in dieser Form auch in Ansätzen bei der katholischen Kirche zu beobachten ist) in der Demonstrationsbewegung, läßt bei ihm die Frage aufkommen, ob der deutsche Protestantismus demokratiefähig sei:

„Der neue Fundamentalismus (gemeint der religiös-protestantische, Anm. d. Verf.) unserer Tage spricht sich hochmütig über die demokratischen Verfahrensweisen aus, weil sie einen Pluralismus von Uberzeugungen fördern, die deutschen politischen Interessen mit den Interessen von Verbündeten kompromißhaft verbinden und in Fragen von weltgeschichtlichem Rang, wie Umwelt und Rüstung, zu wenig Eindeutigkeit produzieren..."

„Die Tendenz, der Opposition gegen die Effektuierung des NA-TO-Doppelbeschlusses den Rang einer Glaubensentscheidung zu geben, die keine Kompromisse mehr zuläßt und im gelungenen Falle sich im Märtyrertum vollendet, provoziert die Frage, ob die Christen als zu demokratischer Mitverantwortung nicht konstitutionell unfähig seien." Daß diese provozierende Frage Rend-torffs innerhalb des deutschen Protestantismus zu heftigen Diskussionen geführt hat, braucht nicht extra betont zu werden.

Einen vorläufig letzten Höhepunkt erfuhr die Diskussion über Widerstand und Gewalt Ende Juli/Anfang August, als der grüne hessische Landtagsabgeordnete Frank Schwalba-Hoth einen US-General anläßlich eines Empfanges des hessischen Landtages attackierte und mit Blut bespritzte.

An dieser Aktion, die selbst bei den Grünen nicht einhellig befürwortet wurde, hat sich nun gezeigt, daß die akademisch geführte Diskussion über Widerstand in ein reales Stadium eintreten ist.

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