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Wie am D-day

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Die europäische Frage, die Großbritannien vierzehn Jahre lang in immer wachsendem Maße aufgewühlt und an den Rand einer echten Verfassungs- und Existenzkrise gebracht hat, ist jetzt endlich klar und eindeutig vom britischen Volk beantwortet worden. Die Volksbefragung über die fortgesetzte britische Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft ergab bei einer erfreulich hohen Wahlbeteiligung von 65 Prozent ein überzeugtes und überzeugendes „Ja“ zu Europa und damit zu den von der Regierung Wilson neu ausgehandelten Beitrittsbedingungen.

Das Ergebnis von mehr als zwei zu eins für Europa — 67,3 Prozent Ja-Stimmen und 32,7 Prozent Nein-Stimmen — stellt eine Majorität dar, wie sie in diesem Ausmaß noch keine britische Regierung jemals bei allgemeinen Wahlen erzielen konnte. Premierminister Harold Wilson ließ es sich nicht nehmen, auf diese historische Tatsache hinzuweisen, und in der Tat haben Durchführung und Resultat dieser ersten nationalen Volksbefragung in der britischen Geschichte die diesbezügliche Politik des Premierministers aufs glänzendste gerechtfertigt. Darüber hinaus hat dieses Referendum für die britische Innen- und Außenpolitik Perspektiven eröffnet, die für die gesamte Struktur des Vereinigten Königreichs von weitreichender Bedeutung sein könnten, ganz abgesehen von den monumentalen Konsequenzen der EG-Mitgliedschaft.

Eine Analyse der Resultate ist erst möglich geworden durch die späte und zögernde Entscheidung der britischen Regierung, die Stimmenzählung nicht national, sondern nach Grafschaften und Regionen durchzuführen. Ironischerweise waren es gerade die Antieuropäer in Schottland, Wales und Nordirland gewesen, die auf einer regionalen Auszählung bestanden hatten, weil sie ihre natio-> nalistischen und separatistischen Bestrebungen durch ein regionales Nein zu Europa zu fördern hofften. Aber die Kurzsichtigkeit dieser Politiker wurde durch den gesunden Menschenverstand des britischen Wählers mit der verdienten Strafe belegt: Schottland, Wales und Nordirland wiesen die mit geradezu hysterischem Aufwand geführte antieuropäische Kampagne zurück und folgten der sonst vielgeschmähten Regierung in London auf dem Weg nach Europa. Wohl waren die Mehrheiten dort etwas kleiner, doch bedeuten die 58,4 Prozent Ja-Stimmen in Schottland angesichts des wachsenden Einflusses der antieuropäischen Schottischen Nationalistischen Partei immer noch einen eindeutigen Erfolg des Europagedankens. Und ganz besonders hoch muß das Resultat in der leidgeprüften Provinz Nordirland geschätzt werden; trotzdem nahezu alle führenden protestantischen Politiker mit Ausnahme von Brian Faulkner leidenschaftlich zum „Nein“ aufriefen, obwohl der sattsam bekannte Pastor Jan Paisley die sektiererischen Instinkte der protestantischen Mehrheit dadurch aufzu-schürzen versuchte, daß er den Vertrag von Rom als „katholische Verschwörung“ bezeichnete, und obwohl das Europa-Referendum nach so vielen vorangegangenen erfolglosen Wahlen und Abstimmungen in Nordirland dort nur eine Beteiligung von 47,4 Prozent ergab, was sich allen Prophezeiungen nach zum Vorteil der Antieuropäer hätte auswirken sollen, all diesen Schwierigkeiten zum Trotz

stimmten 52,1 Prozent der zur Urne gegangenen Nordiren mit „Ja“. Und in Wales schließlich, wo die Nationalistische Partei zwar etwas schwächer, aber nicht weniger lautstark ist als in Schottland, kam es bei einer Wahlbeteiligung von fast 67 Prozent zu einer rund 65prozenti-gen Mehrheit für Europa.

Diese regionalen Ergebnisse mit ihrer, Niederlage für die dortigen nationalistischen Parteien bedeuten natürlich eine wesentliche Stärkung der britischen Regierung bei den weiteren Verhandlungen über erhöhte Selbständigkeit für Schottland, Wales und Nordirland. Die Extremisten sind dort von ihren eigenen Wählern eindeutig in ihre Schranken verwiesen worden, ihr Anspruch darauf, die Alleinvertreter für das Wohl ihrer jeweiligen Provinzen zu sein, wurde Lügen gestraft, und sie werden es von nun an viel schwerer finden, einen entscheidenden Druck auf die Zentralregierung in London auszuüben, ganz abgesehen davon, daß das klare Bekenntnis des ganzen Landes zu Europa die internen Zänkereien über eine „nationale“ Unabhängigkeit von Schottland oder Wales noch viel kleinlicher und unbedeutender erscheinen läßt als bisher.

Eine weitere und möglicherweise tiefgreifende Konsequenz des Referendums war die Tatsache, daß es erstmalig außerhalb von Kriegszeiten zu einer vorbehaltlosen Zusammenarbeit britischer Politiker aller Parteien kam. Als der Labour-Innenminister Roy Jenklns den 6. Juni 1975, den 31. Jahrestag der alliierten Invasion Europas, als den zweiten „D-day“ in der britischen Geschichte bezeichnete, als die friedliche Rückkehr Großbritanniens nach Europa, erhob sich neben ihm der stellvertretende Parteiführer der Konservativen, William Whitelaw, und die beiden Männer, die in der vorangegangenen Wahlschlacht bei zahlreichen proeuropäischen Versammlungen dasselbe Podium geteilt hatten, reichten einander die Hände mit einem Lächeln, dessen Wärme und Aufrichtigkeit unverkennbar waren. Das bedeutet natürlich kein plötzliches Begraben , aller weltanschaulichen Gegensätze, ja nicht einmal die Aussicht auf eine baldige Koalitionsregierung; aber es wurde hier doch echtes politisches Neuland erschlossen, eine Saat gesät, die eines Tages unerwartete Ernte bringen könnte.

Großbritannien hat eine große Schlacht, aber noch nicht den Krieg gewonnen — ganz wie am D-day vor 31 Jahren. Die neuen „Alliierten“, die acht anderen EG-Staaten also, haben den leicht verspäteten Neuankömmling bereits herzlich begrüßt; sie können viel, aber durchaus nicht alles tun, um die britische Wirtschaftskrise zu beseitigen und aus diesem Land wieder einen ebenbürtigen Partner zu machen. Aber der starke Impetus, den die britische Regierung durch das eindeutige Mandat des Referendumresultates jetzt erhalten hat, wird es ihr auch innenpolitisch leichter machen, die nötigen wirtschaftlichen und antiinflationären Maßnahmen durchzusetzen; schließlich hat auch die bisher so mächtige britische Gewerkschaftsbewegung mit ihrer Antieuropakampa-gne einen empfindlichen Rückschlag erlitten, und sie, ebenso wie der linke Flügel der Labourpartei, werden nun einer maßvollen und vernünftigen Politik des Zentrums gefügiger sein müssen als bisher.

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