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Wie der Mensch zum Automaten wird…

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„Die geistige Leere des Menschen beginnt in dem Augenblick, in dem der Despot Verstand, Ehre und Gewissen zu seinem Monopol erklärt und verbietet, sie eigenständig herauszubilden … Der Mensch ohne eigenes Ich wird zum Automaten, der alles ausführt, der aber nicht schafft“, heißt es in der Einleitung zu einem 1976 erschienenen Piper-Taschenbuch mit dem Titel „Politische Gefangene in der Sowjetunion

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„Die geistige Leere des Menschen beginnt in dem Augenblick, in dem der Despot Verstand, Ehre und Gewissen zu seinem Monopol erklärt und verbietet, sie eigenständig herauszubilden … Der Mensch ohne eigenes Ich wird zum Automaten, der alles ausführt, der aber nicht schafft“, heißt es in der Einleitung zu einem 1976 erschienenen Piper-Taschenbuch mit dem Titel „Politische Gefangene in der Sowjetunion

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Zwar gehören die berüchtigten Säuberungsprozesse der Stalin-Ära, denen Millionen zum Opfer gefallen sind, der Vergangenheit an. Der Systemkritiker Wladimir Bukawsky weist jedoch in einem Brief an die amerikanische Gesellschaft für Psychiatrie (1977) eindeutig nach, daß im Ostblock noch immer Kfitik am Gesellschaftssystem vom Staat mit Unterdrückung beantwortet wird. Bukowsky, der bekannterweise im Dezember 1976 gegen den chilenischen KP-Generalse- kretär Luis Corvoldn ausgetauscht wurde, ist wegen Zusammenstellung eines umfangreichen Dossiers über rechtswidrige Internierungen im März

1971 zur Höchststrafe verurteilt worden: sieben Jahre Lager und Gefängnis, und fünf Jahre Exil. Vorher hatte man ihn allerdings einige Male in psychiatrischen Kliniken zwangsweise festgehalten.

Das Grundrecht der freien Meinungsäußerung ist in def Verfassung der UdSSR verankert, und jeder Willkürakt soll bestraft werden. Chruschtschow erklärte seinerzeit, daß es in der Sowjetunion keine politischen Gefan genen mehr gäbe, die sowjetische Realität sieht jedoch anders aus. Bereits zu Chruschtschows Zeiten ging man dazu über, „Nonkonformisten“ für unzurechnungsfähig zu erklären und in psychiatrische Sonderanstalten ein- zuweisen. Eine Vorgangsweise, die übrigens älter als die Kremlbürokratie ist: Der russische Philosoph Pjotr Ja- kowlewitsch Tschaadajew, der 1836 in der Zeitschrift „Das Teleskop“ die Leibeigenschaft leidenschaftlich anklagte, wurde für verrückt erklärt. Zar Nikolaus I. ließ die Zeitschrift verbieten und forderte den „Verrückten“ zur Selbstkritik auf.

Prof. Dr. Andrej Sneschnewsky, Mitglied der Akademie der medizinischen Wissenschaften in der UdSSR, ist der Gründer der „Moskauer Schule“, die - nach Aussage von Dissidenten und ihrer in den Westen gelangten Schriften

- jede Abweichung von der gesell schaftlichen, politischen Norm als Geisteskrankheit definiert. Vom Ausland darauf angesprochen, habe Prof. Sneschnewsky erklärt, derart subtile Symptome psychischer Störungen könnten nur von geschulten Psychiatern erkannt werden. Trotz anfänglichen Widerstandes der Ärzte hat sich diese Schule ausgebreitet und soll von der forensischen Psychiatrie in der UdSSR übernommen worden sein.

Der KGB soll im Zusammenwirken mit willigen Psychiatern wie etwa der Kommission des Serbsky-Institutes für Gerichtsmedizin eine Methode entwickelt haben, die gegen Ende der sechziger Jahre häufig zur psychiatrischen Repression angewendet worden sei, um Regimegegner für unzurechnungsfähig zu erklären. Die Psychiater der Sneschnewsky-Schule hätten ein ganzes System ausgearbeitet, um diese Maßnahmen diagnostisch zu begründen.

Auch der Leiter der Forensischen Abteilung der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik, Univ.-Doz. Dr. Willibald Sluga, erklärte anläßlich einer Pressekonferenz im September dieses

Jahres im Anschluß an den Besuch einer österreichischen Psychiaterdelegation in der Sowjetunion: „Ich glaube, daß in der UdSSR wie in allen totalitären Staaten politische Opposition psychiatriert wird.“ Und weiter in einem ORF-Interview: „Ich glaube, daß es nicht möglich ist, innerhalb so kurzer Zeit die systemimmanente Perfektion dieses Mißbrauchs der Psychiatrie zu durchschauen.“

Auf dem diesjährigen Weltkongreß der Psychiatrie in Honolulu wurde die UdSSR wegen politischen Mißbrauchs der Psychiatrie mit 90 zu 88 Stimmen verurteilt

Der sowjetische Mediziner - somit auch der Psychiater - ist neben der

Bindung an den hippokratischen Eid auch noch durch Bescheid des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 26. März 1971 verpflichtet, seine Handlungen gemäß den

Prinzipien der kommunistischen Moral“ zu setzen und sich jederzeit der „Verantwortung dem Volk und dem Sowjetischen Staat gegenüber bewußt zu sein“. So sind die sowjetischen Ärzte gegenüber Institutionen weisunggebunden, die über politische Gefangene befinden.

Aus einer diesbezüglichen Dokumentation von Amnesty International geht hervor, daß sich immer wieder Psychiater für diese Form des Mißbrauchs der Psychiatrie hergegeben haben. Dr. SerryonGlusman aus Kiew, der sich dieser Praxis öffentlicht widersetzt hat und gegen die psychiatrische Internierung eines bekannten Moskauer Vorkämpfers der Menschenrechte aufgetreten ist, wurde

1972 wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ zu sieben Jahren Haft verurteilt

Zwei Bestimmungen des sowjetischen Strafgesetzbuches - Artikel 70 und 190-1 - untersagen unter Androhung von Haftstrafe den Besitz von Schriften, die offizielle Praktiken kritisieren; Verbreitung solcher Literatur; mündliche Kritik an offiziellen Praktiken; Weitergabe von Informationen über Mißbrauche der Psychiatrie an Sowjetbürger oder Auslandsjournalisten; Beteiligung an offiziell nicht genehmigten Demonstrationen. Dabei stützt man sich insbesondere auf das Verbot der „Verbreitung von wissentlich falschen Behauptungen, die die sowjetische Staats- und Gesellschaftsordnung verleumden“.

Häufig fordern Dissidenten in den Kommunistischen Staaten des Ostblocks nur die wortgetreue Einhaltung sozialistischer Verfassungen und Gesetze, die unter anderem das Recht auf freie Meinungsäußerung - auch über Staatsgrenzen hinweg -, das Recht auf freie Ausreise sowie den Schutz der privaten Sphäre garantieren.

Hinter diesen systemimmanenten Forderungen steht jedoch zumeist die Vision einer freien Gesellschaft Frei in diesem Sinne bedeutet nicht eine harmonische, konfliktfreie, paradiesische Idylle, sondern eine Gesellschaft, in der das rational-argumentative Austragen notwendigerweise bestehender Konflikte eine bestimmende Regel des Zusammenlebens ist und in der Gewalt als Mittel zur Unterdrückung von Meinungen geächtet wird. Kritische Toleranz gegenüber dem Anders-Sein und Verzicht auf die gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen „wären in der Tat Voraussetzungen für eine Gesellschaft des Friedens“.

Dr. Irmgard Hutter, Mitglied des Internationalen Exekutivkomitees für Europa der Amnesty International, stellt zu den sowjetischen Praktiken fest: „In der UdSSR fehlen unabhängige Kontrollmechanismen.“ Die politische Unterdrückung werde jedoch nicht zu einer Revolution führen, eine allmähliche Systemveränderung werde ihr vorgreifen.

Die Methoden zur Einschüchterung der Dissidenten des Landes bis hin zur Umerziehung oder Brechung der Persönlichkeit werden jedoch immer raffinierter und ausgeklügelter: Also weniger Anwendung von Gewalt oder E-Schocks - man begnügt sich zunächst mit Verleumdungskampagnen und Arbeitsverboten, gefolgt von psychiatrischen Diagnosen, die den Betroffenen ständig unter das Damoklesschwert einer Z wangshospitalisierung stellen. Bürgerrechtskämpfer, die auf diese „sanfte“ Weise nicht zum Schweigen gebracht werden, inter niert man und setzt sie Pharmakotherapien aus.

Der JMathematiker L. Pljuschtsch, der sein Freikommen wohl vor allem dem Einsatz der internationalen Hilfsorganisation für Gewissensgefangene „Amesty International“ verdankt, hat die Ziele der staatlichen Internierung oppositioneller Kräfte offengelegt. Um nur einige zu nennen: Prozesse werden absolut geheim geführt, der Angeklagte kann sich vor Gericht nicht verteidigen; der „Schuldige“ wird ohne zeitliche Begrenzung isoliert; der Internierte und seine Ideen werden öffentlich diskrediert.

Zugleich bringt man politische Häftlinge immer mehr in Sonderanstalten außerhalb der einem Westbesucher zugänglichen Zonen, Prozesse finden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt, um sie auf diese Weise der Kontrolle der Menschenrechtsorganisationen zu entziehen. In der Bevölkerung aber soll der Eindruck erweckt werden, das sowjetische Gesellschaftssystem sei dergestalt vollkommen, daß in ihm keine Kritik mehr entstehen könne.

Kritische Wahrheit ist unter allen Umständen zu unterbinden. In einem Brief Lenins an den Kommisar für Auswärtige Angelegenheiten Tschi- tscherin (1920) ist nachzulesen, auf welchen Stellenwert die Wahrheit in totalitären Staaten reduziert werden kann: „Die Wahrheit sagen ist ein bourgoises Vorurteü. Eine Lüge wird durch das zu verfolgende Ziel gerechtfertigt.“ Aldous Huxley erkennt über die direkte Lüge hinaus im bloßen Verschweigen der Wahrheit eines der wirksamsten Mittel, die öffentliche Meinung zu manipulieren: „Groß ist die Wahrheit, größer aber, vom praktischen Gesichtspunkt - ist das Verschweigen der Wahrheit Indem totalitäre Propagandisten gewisse Dinge einfach nicht erwähnten, indem sie einen .eisernen Vorhang' zwischen den Massen und solchen Tatsachen oder Beweisgründen zogen, die von den politischen Machthabern für unerwünscht gehalten wurden, beeinflußten sie die öffentliche Meinung viel wirksamer…“

So erklärt sich auch der bewußte Verzicht auf physische Gewaltanwendung - bisher wichtigstes Instrument aus dem reichhaltigen Erfahrungsschatz der politischen Intoleranz. Es gibt eben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „leistungsfähigere“ Methoden zur Durchsetzung von Ideologien und Systemen, in der heutigen Sowj etunion eben die Psychiatrie rung von Dissidenten. Der utopische Roman „Schöne neue Welt“ konfrontiert die Regierenden der Zukunft bereits mit dem Problem, „wie man Menschen dahin bringt, ihr Sklaventum zu lieben“.

Doch dieses Schreckensbild gehört in die Welt inhumaner Utopien. Vielleicht aber beginnt doch eines Tages - um mit Nicolas Berdjajew zu sprechen

- ein neues Zeitalter. Ein Zeitalter, in dem der Mensch von Mitteln und Wegen träumt, den Utopien auszuweichen und zu einer nichtutopischen, einer weniger „vollkommenen“ aber freien Gesellschaft zurückzukehren.

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