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Wie der Wiener wählt

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Wien als soziologischer und politischer Sonderfall, dessen demographische Abweichungen von der österreichischen Norm und dessen historische Sonderstellung mit einem vom gesamtösteireichischen deutlich unterschiedenen Wahlverhalten korrespondieren, hat bisher nur wenige Vertreter der politischen Wissenschaften zu tieferschürfenden Untersuchungen provoziert — wie ja diese

Disziplin in unserem Lande überhaupt das Feld weithin den Meinungsforschern überläßt. Die Demoskopie aber ist als Instrument zum Verständnis des Wiener Wahlverhaltens zumindest um eine Dimension, nämlich die historische, zu arm.

Dabei ist eine intensivere Beschäftigung mit diesem Thema gerade für die ÖVP von größter Wichtigkeit, ja wahrscheinlich geradezu Voraussetzung für ein gesamtösterreichi-sches Comeback — dies ergibt sich obwohl nicht direkt ausgesprochen, als ziemlich zwingende Konsequenz aus der Lektüre der Schrift „Wahlverhalten in Wien“ von Hans Magenschab (Heft 4 der „Gesellschaftspolitischen Informationen“). Es ist wahrscheinlich gerade der Kürze und Knappheit (und daraus resultierenden Übersichtlichkeit) dieser Broschüre zuzuschreiben, wenn das teils bekannte, teils neu erschlossene, aus Statistiken und Meinungsumfragen destillierte Material seine innere Logik hier mit großer Deutlichkeit preisgibt — auch für die Politiker, die es angeht, deren Aufgeschlossenheit für wissenschaftliche Untersuchungen allerdings notorisch ziemlich gering sein soll.

Magenschab arbeitet an Hand zahlreicher Fakten die Tatsache heraus, daß sich Wien von den Bundesländern keineswegs nur durch einen — demographisch begründeten — höheren Anteil von SPÖ- und geringeren Anteil von ÖVP-Wählern unterscheidet, die man im übrigen mit den Wählern der jeweiligen Parteien in den Bundesländern in einen Topf werfen kann. Vielmehr unterscheidet sich das Wiener Wahlverhalten, unabhängig von der Stellungnahme für diese oder jene Partei, von dem jener Gebiete, die aus der Perspektive der zum „Wasserkopf“ degradierten Metropole (in Europa lebt nur noch in Dänemark ein so hoher Prozentsatz der Gesamtbevölkerung in der Hauptstadt) stets als Provinz betrachtet wurden. Dieses vom gesamt-österreichischen deutlich unterschiedene Wahlverhalten Wiens kann als Umschlagen von der Quantität zahlreicher demoskopischer Eigentümlichkeiten in die Qualität einer lokalen politischen Eigenart gesehen werden.

Einmal mehr, aber mit besonderer Deutlichkeit, wird hier auf die wohl nicht zuletzt durch ideologische Pro-fllierungsprobleme provozierte, für das spätere politische Schicksal des bürgerlichen Lagers in Wien verhängnisvolle, allzu ausschließliche Weichenstellung auf die kleinbürgerlichen Wählergruppierungen hin zurückgegangen. Ein goldrichtiger Satz: „Die Haltung der Sozialdemokraten in diesen Fragen stand der städtischen, von der Wirtschaftskrise bedrängten, stärker konsutmorientier-ten Bevölkerung näher als die gesellschaftspolitische und familienpolitische Ideenwelt der katholischen

Kirche und der Christlichsozialen. Nicht zuletzt ist auch in solchen Bereichen der Aufstieg der Sozialdemokratie in der Zwischenkriegszeit zu erklären: als politische Bewegung, die die Probleme und Sorgen einer städtischen Bevölkerung besser verstehen und bequemere Lösungen anbieten konnte.“

Wiederum drängt sich die Konsequenz, von Magenschab keines-

wegs ausgesprochen, mit unerbittlicher Folgerichtigkeit auf: In einer Phase, in der die Probleme der großstädtischen Bevölkerung von gestern mehr und mehr zu den Problemen der Gesamtbevölkerung von heute werden, wird die ÖVP ihren ideologischen Nachholbedarf am ehesten in Wien decken können — was freilich alles andere als der Weg des geringsten Widerstandes, von außen wie von innen, ist. Denn sie muß dabei nicht nur über den eigenen Schatten springen, sondern vielleicht auch ein Stück von ihrer eigenen Profllierung preisgeben.

Der für das bürgerliche Lager bittere, aus einem überreichen vor dem Leser ausgebreiteten Faktenmaterial

ins Gesicht springende Schluß: Was die SPÖ 1970 dem Wähler anzubieten hatte und was den Wähler damals faszinierte, hat die SPÖ in Wien erarbeitet — jahrelang in einem gesamtösterreichischen Abseits. Das bürgerliche Lager kann nur dann gegen sie aufkommen, wenn es einige nicht oder zu flüchtig gelernte Lektionen schleunigst nacharbeitet — und seine eigenen Schlüsse daraus zieht. Die Resultate der Rechnung können, wie so oft in der Politik, voneinander abweichen. Nur: Die Rechnung mit den gegebenen Größen muß stimmen.

Dies sind aber Schlüsse aus einem Material von Daten, auf deren Wiedergabe und knappe Kommentierung sich Magenschab beschränkt. Manches davon verblüfft, man hat es nicht gewußt oder nicht so deutlich gewußt. So die Tatsache, daß nur 55 Prozent der Wiener Wählerschaft hier geboren wurden — zugezogen sind 15 Prozent vor 1945, 19 Prozent zwischen 1945 und 1961, 9 Prozent seit 1961 (zwei Prozent gaben keine Antwort). Dabei sinkt der Anteil Wiens an der Gesamtbevölkerung Österreichs unablässig — von 29,4 Prozent 1923 auf 23,3 Prozent 1951 und 21,6 Prozent heute (1971).

Doch liegt der Anteil Wiens am Bruttonationalprodukt in allen Wirtschaftszweigen außer Land- und Forstwirtschaft sowie Energiewirtschaft noch signifikant über dem Anteil an der Bevölkerung. Aber es sinkt die Zahl der Betriebe, der selbständigen Gewerbetreibenden, der Geschäftsleute (die entscheidend zur finanziellen Potenz der Wiener ÖVP beitragen, wie der Autor hier anmerkt), während sich das Reservoir der Unselbständigen in der Bundeshauptstadt vergrößert.

Demographisch sind in Wien vor allem die Überalterung und der Frauenüberschuß deutlich. Der Frauenüberschuß kommt vorwiegend der ÖVP zugute. 1964 entfielen auf die ÖVP 33,9 Prozent aller Stimmen:

31 Prozent der Männer-, aber 35,8 Prozent der Frauenstimmen, und auch 1969 erhielt die ÖVP 27,8 Prozent aller, aber nur 24,5 Prozent der Männer- gegenüber 30,1 Prozent der Frauenstimmen.

Deutlich tendieren die Frauen zu den Großparteien, und die 1969 von vielen Leuten kolportierte Lesart, Olah habe hauptsächlich vom „Mitleid der Frauen“ profitiert, erwies sich als völlig falsch. Er bekam 7,2 Prozent der Männer-, aber nur 3,8 Prozent der Frauenstimmen, und auch die FPÖ ist in Wien eine ausgesprochene Männerpartei (9 gegenüber 6 Prozent!). Frauen haben, so der Autor, „ein potentielles Mißtrauen gegen Parteien, die stark systemändernd oder einflußlos auf politische Entscheidungen sind“.

Angesichts der Tatsache, daß in Österreich nur knapp zehn, in Wien aber fast 16 Prozent der Gesamtbevölkerung Frauen über 60 Jahre sind, und diese Wählergruppe in Wien noch weiter wächst, sind die älteren Frauen eine der wichtigsten Wählergruppen in Wien — aber auch eine, die nur schwer zu einem Parteiwechsel zu veranlassen sein dürfte.........Ä'2 h

“Iii Wien ist aber auch, so der Ver-

fasser, deutlich erkennbar, „wie stark soziale Phänomene mit politischen Einstellungsmustern korrelieren“ und „exemplarisch nachweisbar, daß das Wahlverhalten in großen Städten zentral nach wie vor das Resultat sozialer Bezugsfelder ist; dafl Umweitfaktoren und Wohnstruktui für eine bestimmte Bevölkerung deutlich abhebbare politische Größer sind“. Er teilt dementsprechend Wien in vier voneinander abgrenzbare Zonen ein, und zwar: Die „Bürger- Und Beamtenbezirke“ (1, 4, 6, 7, 8, 9), die „Arbeiterbezirke“ (2, 5, 12, 14, 15, 16, 17, 20) die „Zuzugsgebiete“ (10, 11, 21, 22, 23) und die „Mischgebiete“ (3, 13, 18, 19). Dabei weisen die Zuzugsgebiete „die wohl stärkste SPÖ-Dominanz auf. In diesen Stadtregionen hat ein ungeheurer Wachstums-prozeß seit 1945 eine völlige Veränderung der ursprünglichen Siedlungsstruktur herbeigeführt. Es sind jene Gebiete, die gegen die Stadtgrenze zu maximale Ausdehnung vor Wohn- und Industrieanlagen aufweisen und deren Bewohner zum Teil über ,Wohngetto'-Probleme klagen ... Es zeigt sich, daß in diesen Zuzugsgebieten... die SPÖ eine Zweidrittelmehrheit besitzt“.

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