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Digital In Arbeit

Wie die Dörfer zerfallen

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Valentin Rasputin gehört zu den wichtigsten Autoren Sibiriens. Eine Leseprobe aus seiner Erzählung „Der Brand“ beleuchtet die Lage auf dem Lande.

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Valentin Rasputin gehört zu den wichtigsten Autoren Sibiriens. Eine Leseprobe aus seiner Erzählung „Der Brand“ beleuchtet die Lage auf dem Lande.

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Heute läßt sich wohl nicht mehr ausmachen, wie und wodurch es zur Abkehr vom Althergebrachten, zur heutigen Lok- kerung der Sitten kam. Dabei war es anfangs nicht so, auch in der neuen Siedlung war es nicht gleich so, daß jeder seiner Wege ging und einem eingespielten Gemeinschaftsleben den Rücken kehrte, dessen Stärke aus nicht erst gestern ersonnenen Bräuchen und Gesetzen erwachsen ist.

Hatten im Krieg und in den harten Nachkriegsjahren nicht gera-

de diese Gesetze, dieser Zusammenhalt im alten Dorf Zuflucht und Rettung bedeutet, als man für 10 Kornähren schlankweg zu 10 Jahren verurteilt wurde? Als die Steuern den Bauern über den Kopf wuchsen, als den „Säumigen“ die Gemüsegärten beschnitten wurden, damit auf dem abgetrennten Land Brennesseln wucherten, und sie bis zum ersten Schnee nichts für ihre Kuh darauf mähen durften? Als es nottat, nicht nur zusammenzuhalten, sondern auch zusammen auf Draht zu sein, um zu überleben?

Auch in ihrem Dorf hatte es ja alle möglichen Leute gegeben, von denen es wohl so manchen gejuckt hatte, zu melden und zu hinterbringen, die Gesetze einzuhalten und brav zu tun, was verlangt wurde. Einen juckt’s immer. Aber so einer hatte auch gewußt: Im Dorf gab es danach kein Leben mehr für ihn. Jegorowka würde ihm das nicht verzeihen.

Nun aber mußte Iwan Petro- witsch fort, und wie hatte sich alles verändert! Auf den Kopf gestellt worden war alles, kann man sagen, und woran sie sich noch vor kurzem allesamt gehalten hatten, was ungeschriebenes Gesetz, fester Grund gewesen war, hatte sich in etwas Überlebtes, Abnormales, ja, fast in Verrat verwandelt. Und Sosnowka würde es einerlei sein, Sosnowka würde es vielleicht sogar als ruhiger und angenehmer empfinden, wenn Iwan Petrowitsch endlich ging und aufhörte, das Wasser zu trüben.

Nein, es war nicht gleich alles schiefgelaufen, als sie hergezogen waren. Zwar hatte sich die neue Arbeit ausgewirkt: Holz fällen, immer nur fällen, ohne sich darum zu scheren, was danach bleibt oder wächst. Auf den Holzschlägen Schonungen anzulegen wird erst neuerdings zur Pflicht gemacht, aber wie sieht das aus: Du bist ungefähr ebenso dazu verpflichtet, wie du von Zeit zu Zeit an den Tod denken müßtest, um anständiger zu leben, aber du brauchst auch nicht an ihn zu denken, brauchst eben nur zu leben,

und das heißt, Holz zu schlagen. Erfüllst du den Aufforstungsplan nicht, wird dir der Kopf gewaschen, ist aber der Plan für Abholzen, gerbt man dir das Fell.

Daher wurde es mit den Jahren gang und gäbe — und ist bis heute noch so —, daß sich mit solchem Schnickschnack wie Aufforsten die Forstwirtschaft zu befassen hat, und die hat dreimal soviel Arbeit wie andere Leute und ist nicht imstande, auch nur eine Sache zu Ende zu bringen.

Später vermengte sich alles. Schlimm war nicht, daß nach Todesfällen, Hochzeiten, Teilungen und Verkäufen ein Dorf allmählich ins andere überging, ohne ein solches Verschmelzen ist das Leben nicht denkbar; von Übel war, daß sich statt der Weggegangenen und Weggetragenen leichtlebiges

Volk ansiedelte, das sich keine Wirtschaft, ja nicht einmal ein Gärtchen zulegen mochte, das nur einen Weg kannte — in den Laden: um zu essen und die Zeit von einem Arbeitstag zum anderen totzuschlagen. Anfangs nur die Zeit nach Feierabend oder vor Arbeitsbeginn, doch dann nahm man auch die Arbeitszeit dazu, stellte das Einkäufen über die Arbeit —und je länger das ging, umso toller und zügelloser wurde es. Der Arbeit bekam das verständlicherweise nicht—sie klappte nicht mehr, auch waren aus den alten Dorfgemeinschaften längst andere geworden, die man sich früher nicht hätte vorstellen können.

Natürlich hatte es Trunkenbolde gegeben, wo gab es die nicht im heiligen Rußland, aber daß sie sich zu einem Klüngel zusammengeschlossen und sich ganz offen zu einer machtausübenden Gewalt mit Ataman und Sowjet auswuchsen, die nichts fürchtet und keine Scham mehr kennt — das war noch nicht da, das hatte es noch nicht gegeben. Das waren schon unsere eigenen Errungenschaften.

Kürzlich hatte der Schulleiter, Juri Andrej ewitsch, nachgerechnet, wie viele Männer in den sechs Dörfern, die sich zu Sosnowka vereinigt hatten, im Krieg gefal len und wie viele in den letzten Jahren eines unnatürlichen Todes gestorben waren. Eines unnatürlichen Todes — das heißt, im Suff durch Schießereien oder Messerstechereien umgekommen, ertrunken oder erfroren, auf den Holzschlägen durch Unachtsamkeit oder fremdes Verschulden verunglückt. Die Zahlen unterschieden sich nur wenig.

Iwan Petrowitsch ächzte, als er das hörte: Da hast du die Friedenszeit! Dabei hatte er doch gewußt von all diesen Fällen, sie hatten ihn mitgenommen—immer verändert sich etwas in der Welt, sie wird gleichsam dunkler, wenn ein Bekannter aus dem Leben geht, und mit seinem Weggang erschlafft etwas in dir, und sei er noch so ein Hallodri gewesen—, er hatte gewußt von jedem einzelnen Fall und sich gegrämt, aber zu einer Ziffer zusammengefaßt und neben die andere gestellt, wirkten sie niederschmetternd auf ihn. Tagelang lief er verstört umher, versuchte etwas zu begreifen und begriff nur, daß es nicht zu begreifen war, nichts war zu begreifen von dem, was er dieser schrecklichen Gleichung zu entnehmen suchte.

Leicht gekürzt aus „Der Brand“ . C. Bertelsmann Verlag, München 1987.

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