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Wie die Lilien auf dem Felde

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Wir hatten einander lange nicht mehr gesehen. In den ersten Nachkriegsjahren waren wir manches Wochenende gemeinsam ins Wald- und Hügelland, das die Stadt im großen Halbkreis umschließt, hinausgewandert, waren oft erst nach zwei, drei Tagen zurückgekehrt, nachdem wir die Nächte in Stroh- oder Heuschobern geschlafen hatten.

Er war das Kind armer Eltern und brachte oft nur einen Wecken trockenes Brot im Rucksack als Proviant mit. Oft begann er, schon bald nachdem wir die Straßenbahn verließen, von diesem Wecken abzubeißen. Er sagte immer, weil es ihm so gut schmecke. In Wahrheit hatte er wohl Hunger. Er brauchte nie eine Wanderkarte. Er kannte alle Wege, war schon früher kreuz und quer durch das Land gezogen, und wir gingen daher oft stundenlang auf Waldwegen abseits aller Siedlungen durch hohe Buchenwälder oder durch zottige Nadelforste.

Nachdem er geheiratet hatte, wurde das jedoch bald anders.

Er hatte sein Studium abgeschlossen und einen Beruf ergriffen. Seine Frau arbeitete ebenfalls, sie lebten sparsam und kauften sich zuerst einmal ein Auto. Zwei-, dreimal hatten sie uns noch eingeladen, mit ihnen zu fahren. Damals hatte er schon einen leitenden Posten bei einer Zeitung.

Bei diesen Fahrten ging es meistens zu einer bekannten Backhendlstation und nachher zu einem kleinen Spaziergang einem See entlang oder, was noch häufiger war, wir besichtigten irgendein Schloß oder ein altes Kloster. Kirchen und Klöster gab es genug zu besichtigen. Er konnte über sie auch in seiner Zeitung eine Abhandlung bringen.

Später kam das Kind, und unser Freund hatte nur mehr selten Zeit. Wir verloren immer mehr den Kontakt und hatten einander schon jahrelang nicht gesehen.

Nun standen sie in der Kapelle, in der die Trauung stattfand, nebeneinander in der Kirchenbank. Neben dem Sohn stand die Schwiegertochter und die Alten nickten uns zu, als wir in eine der Bänke traten.

Meine Frau und ich waren zur Hochzeit einer jungen Verwandten gekommen und erfuhren später, daß die Schwiegertochter und der Sohn meines ”Freundes mit dem Hochzeitspaar befreundet waren und daher die Familie auch an der Trauung teilnahm. Alle vier waren sehr gut gekleidet. Man sah es ihnen an, sie stellten etwas dar.

Ich hatte nicht viel Zeit zum Uberlegen. Die kleine Orgel begann zu spielen, das Brautpaar, die Beistände und die Eltern zogen ein, alle natürlich in der Reihenfolge, wie es sich gehörte, der Priester trat an die Stufen des Altares. Das Bild über ihm zeigte den Erzmärtyrer, die Steinigung des heiligen Stephanus. Eine Brautmesse wurde gefeiert. Ich dachte noch an unsere gemeinsamen Wanderungen, die uns oft tagelang zu keiner Ortschaft geführt, Wanderungen, bei denen wir die Kirchenglocken nur von weither klingen gehört hatten.

Da stand der Priester schon wieder vor dem Brautpaar und hielt die Predigt. Das Evangelium war gelesen worden. Es war jenes von dem Gleichnis mit den Lilien auf dem Felde und der Priester schloß daran seine Ausführungen an. Er sprach vom Gottesvertrauen und er sprach von den Schätzen im Geiste, die mehr wären, als jene, die wir hier sammeln könnten, und er sprach von der Nutzanwendung des Gleichnisses für das junge Paar.

Schließlich ging die Handlung des Gottesdienstes weiter, und zu meiner Überraschung ging die ganze Familie meines Freundes zur Kommunion. Ich wußte mich noch zu erinnern, wie skeptisch er einst allem Kirchlichen gegenüber gewesen war. Nun, er schien sich bekehrt zu haben.

Nach der Trauung standen wir noch ein wenig im Vorraum der Kapelle herum. Mein Freund stellte uns seine Schwiegertochter vor, und wie das so ist, wenn man einander lange nicht getroffen, erzählt jeder, was er in den letzten Jahren gemacht hatte, wie es ihm beruflich ergangen war und was die Kinder für eine Laufbahn eingeschlagen hätten. Meist ist dann der Gesprächsstoff auch bald erschöpft und man steht verlegen herum und weiß mit einem Menschen, mit dem man nächtelang durchdebattiert hatte, nicht worüber man sprechen soll.

Hier war es aber noch nicht soweit. Vor allem hatten die Gäste der Braut schön arrangierte Blumengebinde mitgebracht, die nun überreicht werden mußten! Die Familie meines Freundes hatte ein besonders schönes Orchideenbukett.

Nur ein junger Mann, mit dem sich das eben vermählte Paar angeregt unterhielt und der in der Kapelle ganz hinten gestanden sein mußte, da ich ihn erst jetzt sah, hatte einen Strauß in der Hand, dem man es ansah, daß er ihn selbst gebunden hatte. Es waren alles Blumen, wie sie in einem Bauerngarten wachsen, und der junge Mann paßte genauso zu den übrigen Festgästen, wie seine Blumen zu den anderen Gestekken paßten. Er hatte Bluejeans und einen Rollkragenpullover an i und machte einen schlaksigen Eindruck.

Ich kannte den jungen Menschen nicht, hatte aber die Bemerkung, „das sieht ihm ähnlich”, aus dem Munde des Sohnes meines Freundes aufgeschnappt. Fragend blickte ich zu meinen alten Wandergefährten.

„Ach”, meinte er und zog mich zur Seite, „ein trauriger Fall. Er ist der jüngste Bruder des Bräutigams. Er ist ganz aus der Familie geschlagen, du weißt doch, der Vater ist ein angesehener Universitätsprofessor und alle Kinder sind etwas Ordentliches geworden. Nur der ließ, kaum daß er den Magister gemacht hatte, alles liegen und stehen und ist mit einer solchen religiösen Sekte, einer Kommune, irgendwohin auf das Land gezogen, wo er mit einer Frau zusammenlebt und wo sie gemeinsam eine Wirtschaft betreiben, Ziegen halten und solch einen Blödsinn. So ein Hirngespinst eben, wie das jetzt modern ist. Und das muß ausgerechnet in einer solch guten christlichen Familie passieren”, sagte er.

Wir waren etwas abseits gestanden. Seine Frau und die Kinder schlössen sich nun dem Gratulationsreigen an und er folgte ihnen. Meine Frau war zu mir getreten und sagte: „Stell dir vor, sie hat sofort festgestellt, daß ich noch das gleiche Kleid wie vor zehn Jahren trage!” Ich wußte natürlich sofort, daß sie die Frau meines Freundes meinte. Wir lachten beide.

Als wir uns zum Gehen wandten, merkte ich, daß ich den Schirm — beim Fortgehen am Morgen hatte es nach Regen ausgesehen — in der Kirchenbank lehnen gelassen hatte. Ich ging also noch einmal in die Kapelle. Der Schirm war noch an dem Platz, an dem ich ihn vergessen hatte. Als ich ihn ergriff, fiel mein Blick wieder vor zum Altar und auf das Bild des heiligen Stephanus. Er hatte sich mit den Amtsträgern seiner Kirche auf einen Disput eingelassen und diese hatten seine Abweichung verurteilt.

Ich stand mit dem Schirm in der Hand vor dem Altar und sinnierte, stellte mir vor, wie die Gemeinde über den Abtrünnigen zu Gericht gesessen war und ihn im Namen des Gesetzes zu Tode gebracht hatte. Ein Sektierer, der den Sabbat nicht hielt, der Unreines aß und der in einer Gemeinschaft dieses gotteslästerlichen Nazareners lebte.

Meine Frau steckte den Kopf zur Kapellentür herein und fragte, als sich mich auf das Altarbild blicken sah, etwas spöttisch: „Nun, was hältst du da für eine Andacht?”

Ja, eine Andacht, sagte ich mir. Ich denke etwas an. Wie oft wird bei einer Andacht etwas angedacht? Doch das war auch nur ein Augenblick der Überlegung, ein Gedanke, der gleichsam vorüberflog. Dann trat ich mit meinem Schirm in der Hand in den Vorraum. Fast alle Festgäste waren fort. Meine Frau sagte, als sie mich herumschauen sah: „Ja, die sind schon fortgegangen. Sie lassen dich schön grüßen. Sie haben es eilig gehabt.”

Als wir über die Treppe auf den Platz vor der Kapelle hinunterstiegen, sahen wir gerade noch, wie die Jungen und die Alten jeweils die Autotüren zuschlugen und fortfuhren. Die Frau des Freundes winkte noch aus dem offenen Fenster. Der schnelle Wagen des Sohnes war aber bereits um die nächste Straßenecke verschwunden.

Die schweren Wolken hatten sich verzogen. Es blies zwar ein frischer Wind, doch die Sonne schien wieder. Wir gingen gemächlich durch die alten Gassen zur Straßenbahn. Meine Frau erzählte, was sie alles von den Freunden erfahren hatte. Da ich sehr einsilbig war, fragte sie: „Was hast du?”

„Hast du gesehen”, sagte ich, „das Brautpaar schienen die einzigen Menschen in der ganzen Gesellschaft gewesen zu sein, die sich über das Kommen des jungen Mannes gefreut haben.”

„Des Bruders in den Jeans?” fragte meine Frau.

„Ja”, sagte ich. „Dabei paßte er so gut zur Predigt von den Lilien auf dem Felde.”

„Ach”, sagte meine Frau, „du bist noch genau so ein Schwärmer wie der junge Mann.”

„Leider nein”, sagte ich.

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