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Wie ein Staat zerfällt
Zwei Millionen Arbeitslose; eine Inflation, die auf die 400-Prozent-Marke zuschreitet; eine irrationale Nationalitätenpolitik: Das ist Jugoslawien heute - ohne erkennbare Zukunft.
Zwei Millionen Arbeitslose; eine Inflation, die auf die 400-Prozent-Marke zuschreitet; eine irrationale Nationalitätenpolitik: Das ist Jugoslawien heute - ohne erkennbare Zukunft.
Böse Zungen im Osten sagen, es räche sich nun, daß die jugoslawischen Kommunisten „nur kurz“ unter dem Terror Stalins gefangen waren und so aus dem System der Schauprozesse nicht die nötigen Lehren ziehen konnten. Bekanntlich brach Staatsgründer Tito bereits 1948 mit dem sowjetischen Diktator und führte die Südslawen zu neuen Ufern, gestand ihnen Bürgerrechte und Freizügigkeiten zu, wovon die re-
bellischen Polen und Ungarn nicht einmal zu träumen wagten.
Heute reiben sich die jugoslawischen Genossen die Augen: Unser Land triftet ja dem Abgrund zu; es zerfällt zu einem neuen Libanon — konstatieren sie. Doch während sie dies laut aussprechen, scheint ein Dämon sie in einen geradezu selbstmörderischen Zerstörungswahn zu treiben, die Vielvölkerföderation mit eigenen Händen in Stücke zu schlagen.
Ein Szenario der letzten Woche: Im Bergwerk Trepca traten 1.200 Bergleute in den Streik. Alle albanischen Kumpel. 300 von ihnen traten 800 Meter unter Tage sogar für neun Tage in den Hungerstreik.
Gewaltlos begehrten die Arbeiter dagegen auf, daß ihnen neben dem ohnehin schon mehr als kargen Lohn (umgerechnet keine 800 Schilling) in ihrer Heimat, der zu 85 Prozent albanisch besiedelten Provinz Kosovo, zunehmend Bürgerrechte vorenthalten werden und in Zukunft gleich ganz abgeschafft werden sollen.
Die dortige Minderheit, Serben und Montenegriner, klagt nämlich über Schikanen der albanischen Mehrheit, über Vergewaltigungen, Psychoterror und Belästigungen, durch die ihnen das Leben zur Hölle gemacht werde.
Doch ohne je diesen Anschuldigungen nachzugehen, herauszufinden, was an den Vorwürfen wahr ist, beschloß die serbisch dominierte Zentralregierung in Belgrad schon vor langer Zeit: Albaner dürfen im Kosovo-Gebiet nur Land erwerben, wenn alle Serben einer Gemeinde danach befragt wurden, ob sie dem nichts entgegenzusetzen hätten, wobei andersherum jeder Serbe, ohne je einen Albaner fragen zu müssen, Grund und Boden erwerben darf.
Des weiteren gilt: Wer beobachtet haben will, daß ein Albaner sich nachts an einer Frau vergriffen hat, kann dies, ohne seinen Namen nennen zu müssen, der Polizei melden und auf ein Strafverfahren pochen. Und der neueste Entwurf einer Gesetzes- und Verfassungsänderung, die die Parteiführer Serbiens anregen: Albanisch soll als Amtssprache abgeschafft werden, Serbisch allein die Behördensprache Kosovos werden.
Die Hungerstreikenden von Trepca forderten den Rücktritt des Parteichefs der Provinz, Rahman Morina, der, obwohl Albaner, sich dafür einsetzte, daß die
Minderheitenrechte für seine zwei Millionen Landsleute im Kosovo aufgehoben werden. Morina, erst 20 Tage im Amt, nahm dann tatsächlich den Hut, um seinem Vorgänger Azem Vlasi, der Anfang des Jahres einer Parteisäuberung zum Opfer fiel, erneut Platz zu machen.
Schon applaudierten die Kosovo-Albaner und mit ihnen zahlreiche Slowenen, die den Arbeitskampf mit Manifestationen „als bedeutenden Schritt in Riphtung Demokratie“ unterstützen. Doch anders als noch vor einem halben Jahr fehlte es an Besonnenheit und fielen solch irrationale Parolen wie „Albaner und Slowenen - die neuen Juden Jugoslawiens“ oder „Wer schürt den neuen Genozid: die Serben“.
Die Gegenseite schlief aber auch nicht. Kaum hatte Morina seinen Rücktritt vollzogen, rollten Panzerkolonnen nach Kosovo und schafften serbische Parteigrößen „ihr“ Volk auf die Straße. Der serbische Parteichef Slobo-
dan Miloševič, für die einen ein neuer Messias, für die anderen ein Mussolini-Gesicht, brüllte vor fast einer Million Serben in Belgrad: „Wir werden sie alle verhaften, alle verhaften.“ Noch spät nachts, als sich viele seiner Anhänger mit Slibowitz und Volksliedern in Trance getanzt hatten, erklärte er seinen Anhängern, daß die Geschehnisse in Kosovo eine Konterrevolution seien.
So sitzt heute Azem Vlasi nicht — wie von seinen Anhängern gewünscht — im weichen Sessel des Provinzparlaments in Pristina, sondern schwer bewacht hinter Gittern. Das jugoslawische Parlament glaubt, ihn in einer nichtöffentlichen Sitzung der,.Konterrevolution“ überführt zu haben. Serbische Parteiblätter frohlok- ken: Sollte das zutreffen, droht Vlasi und 14 Spitzengenossen Kosovos die Todesstrafe.
„Jedinstvo“ meldet aus Priština, es habe sich eine „Brücke der Konterrevolution“ zwischen Slowenien und Kosovo gebildet. Deswegen gehöre in der Nordwestek- ke Jugoslawiens der Ausnahmezustand ausgerufen. Das heißt, es sollen auch nach Slowenien Panzer rollen, um den dortigen Reformfrühling zu beenden.
Es tut kaum mehr etwas zur Sache, daß das bosnische ZK-Mit- glied Fuad Mujic erklärt, Milosevic sei nach Stalin der erste Kommunist, der wieder glaube, durch Festnahmen seine politischen Gegner ausschalten zu können, oder daß das slowenische Parteiblatt „Delo“ meint: „Ein Parlament existiert bei uns überhaupt nicht mehr. Denn wenn dieses Organ tatsächlich den Ausnahmezustand in Kosovo unterstützt, muß man sich fragen, ob es eine Versammlung ist, wo der Wille des Volkes zum Ausdruck kommt, oder nur ein Politbüro des Militärs.“
Es tut auch nichts mehr zur Sache, daß sich in Kroatien, jener or-
thodox-dogmatischen Republik, in der letzten Woche erstmals zwei unabhängige politische Gruppierungen bilden konnten: der „Kroatische demokratische Bund“ und der „Kroatische sozial-liberale Bund“. Was können die noch ausrichten?
Was bleibt als Perspektive? Ein Bürgerkrieg oder eine Militärdiktatur wie in den zwanziger Jahren - prophezeien Intellektuelle, ohne mit der Wimper zu zucken. Man kann nur hoffen, daß sie sich irren.
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