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Wie Hitler das Reich verspielte...

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Als Einleitung zu dem bedeutenden, wenn auch umstrittenen Werk von Fabry schreibt Professor Ernst Deuerlein: „In der vorliegenden Veröffentlichung ..., die Darstellung und Dokumentation zugleich ist, unternimmt es (der Autor), die Konfrontation zwischen der Sowjetunion und dem Dritten Reich... kritisch zu analysieren ... Seine Methode ist bisweilen unkonventionell, jedoch niemals unwissenschaftlich. Seine Interpretationen verblüffen durch Originalität, der ohne Zweifel widersprochen werden wird.“ Nun, zumindest dem letzten Satz Deuerleins kann man ohne Einschränkung zustimmen.

Auch eine andere zutreffende Bemerkung des Professors soll hier nicht unerwähnt bleiben: „Die Erschütterungen der Geschichte haben in Deutschland trotz aller Ermahnungen und Beschwörungen nicht den Blick für die Vergangenheit geschärft, sondern eine Geschichtsfremdheit ausgelöst und verbreitet, die jeden, der politisch zu urteilen willens oder beauftragt ist, beunruhigen muß.“ In der Tat, die einzige Lehre der Geschichte scheint bedauerlicherweise die zu sein, daß man aus ihr nichts lernt.

Fabry versucht in seinem neuen, breit angelegten Buch, die noch unverständlichen, weil mangelhaft belegten Beziehungen zwischen dem

Dritten Reich und der Sowjetunion aufzuhellen. Die Wichtigkeit seiner Aufgabe — es handelt sich ja um die Schicksals jähre des Reiches vor seinem Untergang — spornte Fabry zu einem bewunderungswürdigen Fleiß an. Die umfangreichen Archivarbeiten, insbesondere die gründliche Sichtung der deutschen Akten, brachten ihm eine ergiebige Beute ein, und die Fachliteratur wird dadurch mit einer Reihe bisher unbekannter Fakten bereichert. Dies ist ein unbestreitbares Verdienst des Autors. Es liegt jedoch in der Natur der Sache, daß auch seine Forschungen nur Teilerfolge verbuchen können und viele Zusammenhänge der Ereignisse dieser kurzen, aber entscheidenden Epoche abendländischer Geschichte weiterhin im Dunkeln bleiben. Dies ist keineswegs Fabrys Schuld. Solange die sowjetischen Quellen „Top Secrets“ und für Historiker versperrt sind, muß jede Dokumentation naturgemäß einseitig und Stückarbeit bleiben. Die Zuziehung sowjetischer Darstellungen, die freilich von der Partei zensuriert und genehmigt sind — wie Fabry es mit den Memoiren Schukows tut — kann Originaldokumente nicht ersetzen.

Als Leitmotiv seines Buches wählte Fabry ein Zitat aus einer unveröffentlichten Denkschrift Arkadi Maslows vom Jahre 1939: „Man kann nicht von der Torheit Hitlers oder der Schurkerei Stalins ausgehen — dieser Ausgangspunkt erklärt absolut nichts. Es handelt sich um historische Entscheidungen; weder die Torheit eines Mannes noch die List eines anderen können als genügende Bewegkräfte angesehen werden, die das Geschick des ganzen europäischen Kontinents beeinflussen.“

Der Zweck des Buches wäre demnach, diese These zu beweisen. Das Motto ist jedoch gerade bei Fabrys Beweisführung fehl am Platze. Die von ihm zu Tage geförderten und verwendeten Dokumente überzeugen den Leser vom Gegenteil. Nach den Akten zu urteilen, waren hier ohne jeden Zweifel zwei Betrüger von Riesenformat am Werk, die das Geschick der Welt bestimmten.

Und wenn Fabry glaubt, diesbezüglich neue Gesichtspunkte entdeckt zu haben, so hat er es nicht verstanden, diese den Lesern zu verkaufen. Anstatt die Akten für sich sprechen zu lassen, verliert er sich nur zu oft in einer zwar originellen, aber nicht immer zweckmäßigen Polemik, die — mit überflüssigen Kraftausdrücken gespickt — den wissenschaftlichen Wert seiner Forschungen beeinträchtigt.

Deutlich sieht man diese Tendenz bei der Schilderung der parallelen Verhandlungen des Kremls mit England und Frankreich einerseits, mit dem Dritten Reich im Sommer 1939 anderseits. Fabry möchte glaubhaft machen, daß Stalin mit den Engländern nur gespielt habe, um seine Karte gegen Hitler ausspielen zu können. Diese Annahme ist irrig und aktenwidrig. Die Briten, genauer die Regierung Chamberlain, wollten ja gar keine Allianz mit den Russen. Deshalb beauftragte Chamberlain einen untergeordneten Beamten des Foreign Office, William Strang, nach Moskau zu fahren — ohne Befugnisse, irgendwelche Vereinbarungen abschließen zu können. Stalin, der vor Hitler begründete Angst hatte, ließ seinen, Außenminister Molotow agieren, während die

Engländer nicht einmal einen Staatssekretär delegierten. „Es springt in die Augen“ — so der amerikanische Historiker Tanstll —, „daß sich Chamberlain auf dem Weg zu einem möglichen Einvernehmen mit den Russen widerwillig hinschleppte.“ Und der englische Historiker Taylor meint: „Die Briten führten sich auf, als ob ihnen die Ewigkeit gehöre...“

Breiten Raum widmet Fabry der noch immer unbeantworteten Frage, ob Stalin von Hitlers Überfall wußte oder ob der Kreml-Herr ahnungslos war. Viele Belege, die Fabry zusammengetragen hat, zeugen davon, daß Stalin über das Vorhaben Hitlers genau im Bilde war. Dies beteuert auch der Autor. Denjenigen, der Fabrys frühere Arbeiten, so den „Hitler-Stalin-Pakt“ kennt, wird allerdings befremden, daß er damals eine andere logische Folgerung zog: „Er (Stalin) hielt es für ausgeschlossen, daß Hitler sich einen Feind auf den Hals laden würde, ehe der andere, Großbritannien, geschlagen war.“

In seinem verständlichen Eifer, möglichst viele neue Dokumente zu veröffentlichen, übersah der Autor, daß manche davon Wiederholungen und belanglos waren. Eine Kürzung des Buches hätte vorteilhaft gewirkt. Zu beanstanden wären noch viele Rückblenden und die manchmal sprunghafte Darstellung, die den versierten Leser strapazieren könnten. Fabry wäre auch gut beraten gewesen, mehr als 70 Hinweise auf seine früheren Bücher zu unterlassen. Um diese auf das Mindestmaß zu reduzieren, hätte der Lektor, der übrigens den Monat Juni auf 31 Tage verlängerte, eingreifen müssen. Trotz dieser Einwände wird Fabrys Werk künftigen Forschern neue Wege zeigen und als Fundgrube dienen.

DIE SOWJETUNION UND DAS DRITTE REICH. Von Philipp W. Fabry. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1933 bis 1941. Seewald-Verlag, Stutgart.

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