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Wie im geborgten Licht

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Die Tage auf dem Campingplatz waren unerträglich heiß und wir freuten uns auf die Abende. Draußen vor den Zelten saßen die Gäste und genossen mit uns die Kühle. Sie brauchten nicht einmal ihre Lampions und Dauerkerzen an-

zuzünden: der Mond war in voller Schönheit über den Tamaro gestiegen, warf einen hellen Lichtkegel auf den See und verbreitete soviel Leuchtkraft auf dem Platz, daß selbst ein Hörbehinderter seiner Begleiterin die Worte vom Munde nehmen konnte. Am meisten aber überraschten uns die Schatten, welche die jungen Platanen auf unseren Weg zeichneten.

Was wir tagsüber, im vollen Sonnenglanz, kaum ausgehalten hatten, wurde uns nun, da nur das geborgte Licht des Mondes unser Begleiter war, zur ungetrübten Freude. Auch hier gab es Schatten, aber sie waren milder und dem Licht näher verwandt. Geborgtes Licht weiß, daß es sich selbst einem anderen verdankt und geht daher schonend mit denen um, die es erfahren.

Wir alle leben von geborgtem Licht. Auf Stunden, Tage, Wochen wird es uns verliehen. Zeiten, die so kostbar sind, daß wir unsere Armut plötzlich vergessen. Plötzlich können wir mit aller Kraft lieben, verzeihen und vergessen. Plötzlich „fahren wir auf mit Flügeln wie Adler“, entsteht etwas Ganzes unter unseren Händen, verwerfen wir halbe und unbefriedigende Lösungen. Plötzlich brechen eiserne Riegel und ganze Völker erkennen sich in dem wieder, was einzelne in ihrer Mitte mutig anpackten.

Im vollen Licht aber verbrennen wir und ziehen andere in den Flammentod mit hinein. Leidenschaften verzehren augenblicklich, was sie hervorgebracht haben. Wer selbst Licht sein will, ist nur ein Blitzlicht, nach dem die Finsternis umso stärker lastet. Wer aber den erfahren hat, der von sich selbst sagte: „Ich bin das Licht der Welt“, kann geborgtes Licht an andere weitergeben.

Es umfängt ihn nicht pausenlos, aber er weiß, daß es da ist. Seine Wärme kommt fast nie direkt, sondern auf Umwegen, Zeiten der Entbehrung wechseln mit denen der Erfahrung. Auch die Schatten gehören dazu, aber wer in ihre Zone tritt, braucht nicht zu frieren wie am hellen Tag, wenn er der glühenden Sonne entkommen will. Im geborgten Licht erkennen wir uns als Menschen, die einander nichts voraus haben, weil sie alle von der gleichen Gnade des ewigen Lichtes leben.

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