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Wie konnte es zu diesem 13. März 1938 kommen?

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Am 13. März 1938 beschloß eine Regierung, die sich in Zusammenhalt mit einem militärischen Ultimatum die Funktion einer österreichischen Bundesregierung angeeignet hatte, das sogenannte „Bundesverfassungsgesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“. Als formalrechtliche Grundlage für dieses Bundesverfassungsgesetz über eine Wiedervereinigung mit einem Reich, mit dem Österreich nie vereinigt gewesen war, diente das 1934 von einem Rumpfparlament beschlossene und als Regierungsverordnung erlassene sogenannte Bundesverfassungsgesetz vom 30. April 1934 über „außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung“, durch das auch der parlamentarische und demokratische Charakter der Republik außer Kraft gesetzt worden war.

Dies der nüchterne Sachverhalt. Wenn wir heute dieser Situation gedenken, dann nicht, um nach schuldigen Personen zu suchen und auch nicht, um diejenigen, die wir als schuldig zu erkennen glauben, zu ächten oder über sie ein Urteü zu sprechen. Wer vor dem Jahre 1938, in diesem Schicksalsjahr, und nachher nie geirrt hat, der freue sich ob seiner Erkenntniskraft und seiner Klugheit. Wer geirrt hat, hatte Zeit, seinen Irrtum zu erkennen und gutzumachen. Und viele haben dies getan!

Vornehmlicher Sinn des Gedenkens der Ereignisse sei daher nicht eine meist posthume Qualifikation von Menschen, sondern die Prüfung der - allerdings von Menschen veranlaßten und herbeigeführten - Sachzusammenhänge. Wie konnte es zu diesem 13. März 1938 kommen? Welche Lehren ergeben sich aus dieser sachlichen Prüfung für uns und für die kommenden Generationen?

1. Bittere wirtschaftliche Not innerhalb eines Volkes, Hunger, Arbeitslosigkeit breiter Massen, berufliche und allgemein menschliche Hoffnungslosigkeit wirken zerstörend auch auf ein vorhandenes Heimatgefühl und Staatsbewußtsein. Die Heimatliebe, das Ja zum eigenen Vaterland, bedarf neben etwa vorhandener oder wachsender Gefühle auch einer vernunftmäßig begründbaren Uberzeugung, daß diese Heimat und ihre Regierung in der Lage ist, die täglichen Existenzprobleme zumindest bis zu einem bestimmten Maß zu befriedigen. Diese Uberzeugung hat in großen Teilen des österreichischen Volkes, angefangen von 1918 bis 1938, gefehlt.

2. Zur Bildung eines Staatsbewußtseins ist auch die Uberzeugung des Staatsvolkes notwendig, daß die Existenz des eigenen Staates sinnvoll ist für die Gegenwart und für die Zukunft. Ein Volk, dem in einem Friedensvertrag bescheinigt wird, daß es nur deswegen seine Eigenständigkeit besitzt, damit es den Einflußbereich keines seiner Nachbarn in irgendeiner Weise vergrößere, ein Volk also, dessen Existenzberechtigung nur im negativen Postulat und nicht in einer positivkonstruktiven Aufgabe gegeben ist, verliert die Freude an seinem Staat und kann diese Freude auch nicht gewinnen.

3. Eine Regierung, die einen Teil der Bevölkerung von der politischen Willensbildung ausschließt und in die Illegalität drängt, verringert die“ politische Verteidigungskraft des Volkes überproportional. Die Tatsache, daß dasselbe sogenannte Verfassungsgesetz, in Wirklichkeit dieselbe Regierungsverordnung, als formalrechtliche Grundlage sowohl für die Einführung der „autoritären Verfassung“ des Jahres 1934 als auch für die Angliederung Österreichs an das Deutsche Reich verwendet wurde, hat mehr als symbolhaften Charakter. Es zeigt die unveräußerlichen Zusammenhänge zwischen Demokratie und Bewahrung der Unabhängigkeit deutlich auf.

4. Eine Armee allein - auch gut ausgerüstet — schafft noch keine überzeugende Verteidigungskraft. Ein im Volk bestehender Verteidigungswille, also die Uberzeugung, daß der Staat der 'Verteidigung und des höchsten

Opfers wert ist, muß als unabdingbare Ergänzung zur militärischen Verteidigungsbereitschaft dazukommen. Dazukommen muß allerdings auch die Entschlossenheit der Staatsführung, sich der Armee zur Verteidigung nach außen auch zu bedienen.

5. Internationale Freunde, die bereit sind, sich für die Unabhängigkeit des eigenen Staates bedingungslos einzusetzen, müssen zu einer Zeit gewonnen und erhalten werden, wo sie noch nicht als unmittelbare Helfer gebraucht werden. Persönliche Freundschaft und persönliches Vertrauensverhältnis zwischen Staatsmännern, so wertvoll sie für eine günstige Entwicklung sind, genügen alleine nicht. Zu den freundschaftlichen Worten muß auch die Uberzeugung der befreundeten Staaten kommen, daß die Existenz des eigenen Landes von Wert auch für die Freunde ist.

Vermeinen auch befreundete Staaten, mit der Auslöschung eines Staates nur ein wirtschaftliches und politisches Sorgenkind zu verlieren, ist die Versuchung zum Nachgeben groß. Die zurückhaltenden Proteste Englands und Frankreichs in Berlin und das Stillhalten Italiens im Jahr 1938 sind hiefür sprechendes Beispiel.

6. Interessenkollisionen zwischen einem kleinen Staat undei-nem größeren oder großen können nicht durch Abkommen bereinigt werden, die zwecks Herstellung eines für beide Seiten unterschreibbaren Textes zweideutig lesbar sind. Die Interpretation solcher Abkommen erfolgt—nicht nur das österreichische Beispiel zeigt dies — grundsätzlich nach der Lesart des Stärkeren. Das Abkommen vom 11. Juli 1936 ist hiefür mahnendes Beispiel.

7. Und schließlich eine letzte Feststellung: In Zeiten extremer Gefahr und äußeren Druckes darf sich kein Staatsorgan durch Rücktritt oder durch Dahingleitenlassen des Amtes der ihm übertragenen Verantwortung entziehen. Jedes Staatsorgan, angefangen vom Bundespräsidenten, hat seine Funktion, wenn es nottut bis zur Neige des Kelches, zu erfüllen. Es ist ein nicht nur im Falle Österreich auftretendes Phänomen, daß ein Staat, der Unrecht setzt, immer wieder versucht, sein unrechtes Handeln und seine Gewaltakte gegenüber einem anderen Staat durch zumindest formale nationale und völkerrechtliche Legalität zu rechtfertigen. Auch das Deutsche Reich hielt es so, und viele Mitglieder des Völkerbundes, mit Ausnahme der Sowjetunion, Englands, Frankreichs, Mexikos, Chiles, Chinas und Spaniens, waren bereit, die Scheinlegalität auch sofort als Alibi hinzunehmen.

Dies waren einige wenige Gedanken und Schlußfolgerungen, die sich mir aus meiner heutigen Sicht anboten. Das österreichische Volk und damit auch unsere Republik hat seit 1945 die Lehre aus der Geschichte gezogen. Die Besinnung auf den 13. März 1938 hat ihren Sinn erfüllt, wenn wir uns selbst und die nachkommenden Generationen davor bewahren, diese Lehren jemals zu mißachten.

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