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WIE MAN EIN PROBLEM KONSERVIERT

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Man kann die These aufstellen: Je älter ein nationaler Konflikt wird, je ' tiefer er sich eingefressen hat, umso komplexer wird er, umso reicher an Facetten, und damit auch umso exemplarischer, umso mehr gibt er also für das Studium anderer Spielarten des Phänomens her.

In diesem Sinne ist Irland geradezu das Laboratorium des Nationalkonflikts. Mindestens so sehr wie Österreich laut Karl Kraus das Laboratorium des Weltunterganges. In Irland herrscht, mit Unterbrechungen, seit über 500 Jahren Guerillakrieg, in dem einer Unterdrückung von beispielloser Brutalität ebenso brutal begegnet wurde.

Für jeden IRA-Fanatiker ist das sonnenklar, ihm ist jede Leidensstation seines Volkes gegenwärtig, ist Gegenwart, was für die Gegenseite Geschichte ist.

Auch diese Ungleichzeitigkeit, in der des einen auf ewig eingebrannte Gegenwärtigkeit des anderen Staub in den Grüften ist, ist typisch für viele Konflikte und auch für die Lebenslüge vieler Österreicher, denen Auschwitz tausend Jahre entfernt ist, während es für die überlebenden Eltern der letzten in Auschwitz ermordeten Kinder (die jetzt auf der Höhe ihres Lebens stünden) für den Rest ihrer Tage Gegenwart bleibt. In England wie hierzulande besteht die kollektive Lebenslüge im Konsens ganzer Völker, sich dort, wo es ins Selbstverständnis paßt, auf die jeweilige Geschichte zu berufen, die Geschichtsmächtigkeit vergangener Ereignisse aber zu leugnen, wo die in der Gegenwart zu ziehenden Konsequenzen unangenehm wären.

In bestimmten Dubliner Bars singen, grölen, taktieren, stampfen, brüllen Abend für Abend Menschen mit nicht nur .vom Alkohol glänzenden Augen mit, was die Balladensänger

auf der Bühne schweißtriefend zur Gitarre hinausschreien, das Lied vom großen amerikanischen Eisenbahnbau, bei dem die Iren starben wie die Fliegen, das Lied von der Hungersnot vor 150 Jahren, der eine Million Iren zum Opfer fiel (während der Getreideexport nach England ungestört weiterging), das Lied von den Affen im Zoo, die sich zur British Army melden sollten, und die vielen, vielen Lieder von den vielen, vielen Ge-

henkten, Erschossenen, Erschlagenen, Erstochenen in mehr als einem halben Jahrtausend des irischen Unabhängigkeitskampfes, von dem man hierzulande fast nichts weiß.

Es fällt uns schwer, das Streben eines Volkes nach Unabhängigkeit zu verstehen, das die Sprache der Unterdrücker schon vor Jahrhunderten zu seiner Muttersprache gemacht hat (wie etliche Ex-Sowjetvölker das Russische).

Der Ire aber weiß, warum es so ist, weiß, daß in Irland bereits vor Jahrhunderten eine düstere Vorwegnahme Hitlerscher Besatzungspolitik in Polen stattfand, weiß, daß während langer Perioden Todesstrafe auf Besitz auch nur eines Fetzens Papier in irischer Sprache stand.

Unter allen Möglichkeiten, auf Unterdrückung zu reagieren, wählten die Iren am konsequentesten die Rebellion. Englands Niederlagen waren Irlands Feste. Als Englands Kirche von Rom abfiel, gab es den Iren damit eine neue Identität als Ersatz für die verlorene Sprache. Der nationale und koloniale Konflikt bekam seine religiöse Fassade.

Der Ire weiß, daß Todesstrafe auf jeden Versuch eines katholischen Priesters stand, höhere Bildung zu erlangen, daß lange Zeit für jeden getöteten katholischen Priester ein Kopfgeld gezahlt wurde und daß darum Irlands katholische Priester die unwissendsten, rückständigsten, ungebildetsten, ärmsten Europas waren. Der Ire weiß, wer sie dazu verurteilt hat.

Für den Engländer ist das alles Jahrhunderte her. Für den Iren war es gestern. Beide haben recht. Darum verstehen sie einander so schwer. Und darum versteht Boris Jelzin nicht, wieso plötzlich die Tschetschenen, die seit Menschengedenken den Zaren wie der Sowjetregierung die Wachposten stellten, plötzlich auf die nationale Pauke hauen.

Heutigen Nationalkonflikten ging oft eine Kette traumatischer Erfahrungen voraus. In Irland etwa die große Hungersnot. Der Tourist liebt die grandiose Einsamkeit vor allem im Westen Irlands. Der Ire weiß, daß

gerade hier in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine beispiellose Bevölkerungsexplosion stattfand. Ganz Irland lebte von Milch und Kartoffeln, die Kartoffel war das anspruchsloseste Massenfutter des frühen Industriezeitalters. 1846 kommt es zur Katastrophe. Der Kartoffel ist die Kartoffelfäule über den Atlantik gefolgt und breitet sich in den Monokulturen rasend aus. Rund eine Million stirbt, etwa eine weitere Million wandert in die USA aus - einer der großen Beiträge Europas zum Aufschwung der USA.

Die Landlords aber, die ihren Pachtzins in Form von Getreide rücksichtslos eintrieben, ließen Maschinen entwickeln, die eisenbeschlagene Balken durch die Mauern von Bauernhäusern stießen und anschließend das Dach abhoben. So wurde selbst das Vertreiben säumiger Bauern, die den Pachtzins nicht aufbrachten, rationalisiert.

Stalin bediente sich nicht weniger wirkungsvoller Mittel, um die Marx'-sche Theorie vom Verschwinden der nationalen Probleme in einer entwik-kelten sozialistischen Gesellschaft zu verifizieren und die Völker zu „integrieren". Er stand aber auch als Völker-Unterdrücker in einer alten zaristischen Tradition.

Bei aller berechtigten Angst vor den nationalen Explosionen auf dem Gebiet der Ex-Sowjetunion, bei allem Abscheu vor Blutvergießen, trotz des leidenschaftlichsten Ja zum Zusammenwachsen der Nationen: Ohne Kenntnis der nationalen Wunden, ohne Respekt vor den Leiden der Völker keine dauerhafte Befriedung, keine echte Integration.

In der Nacht vom fünften auf den sechsten Dezember 1921 verspielte Premierminister Lloyd George in London in einer negativen Sternstunde der Geschichte die Chance auf dauer-

hafte Befriedung. Die Irische Verhandlungsdelegation hatte akzeptiert, was durch Jahrhunderte als absolut unakzeptabel gegolten hatte: Teilung der Insel. Irland hätte die bittere Pille aber geschluckt - um den Preis voller Unabhängigkeit für die junge Republik. Lloyd George drohte mit dem totalen Krieg und erzwang das Verbleiben der Republik im Commonwealth. Damit polarisierte er die Nation, konservierte die Bürgerkriegs-

Situation und schuf die Bedingungen für das Überleben der IRA im Untergrund. Und damit die Existenzbedingungen für einen immer weiter schwärenden Eiterherd.

Das heutige Großbritannien zahlt dafür einen hohen Preis, ganz Europa leidet an diesem Unruheherd mit. Die ganze Welt aber sollte endlich die historische Lektion gelernt haben: Wenn Völker eines Staatsgebildes auseinanderdriften, mag man ihnen noch eine Weile gut zureden - gewaltsam zusammenhalten kann man sie nicht. Gewalt vernichtet bloß die Hoffnung auf ein neues Zusammenwachsen. Wer neuen Integrationsprozessen eine Chance geben will, versucht auf keinen Fall gewaltsam zu halten, was friedlich nicht zu halten ist.

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