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Wie sachlich urteilten die Atomexperten?

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Das Bundeskanzleramt hatte die österreichische Soziologin Helga Novotny beauftragt, die Informationskampagne der Bundesregierung in Sachen Kernkraft durch eine soziologische Untersuchung zu „begleiten". Die Leiter der Expertengruppen, in denen Pro- und Kontrastimmen paritätisch vertreten sein sollten (was nur in wenigen Fällen gelang), und die Experten selbst wurden von der Autorin während ihrer internen Fachdiskussionen sowie der nachfolgenden Publikumskonfrontation beobachtet, nach Reaktionen und Argumentationen eingestuft und einem abschließenden Interview unterzogen: Sie sollten zu ihren eigenen Motiven sowie zu den mutmaßlichen Beweggründen der andersdenkenden Wissenschafter Stellung bezie- -hen.

Das Ergebnis dieser Studie ist das brillant geschriebene Buch „Kernenergie: Gefahr oder Notwendigkeit", in dem die Autorin nicht nur die Resultate der Selbst- und Fremddarstellungen der etwa sechzig nicht namentlich erwähnten Experten referiert, sondern auch eine Reihe von gewagten Schlußfolgerungen für ein vermutetes neues Wissenschaftsverständnis der Zukunft zieht

Nach Novotnys Untersuchung waren die Pro- und Kontraeinstellungen der Experten weitgehend durch karrieremäßige Gegebenheiten determiniert. So machen „glatte" Karrieren auf einem engen Fachgebiet, je nach Beschaffenheit desselben, sowohl zur absoluten Befürwortung als auch zur bedingungslosen Ablehnung der Kernenergie geneigt Dagegen führen Laufbahnen mit mehrfachem Wechsel des Arbeitsgebietes, etwa zwischen Industrie, außeruniversitärem Forschungsinstitut und Universität zu vorsichtigen Befürwortungen bzw. zu einer bedingten Skepsis.

Das scheint plausibel. Höchst aufschlußreich sind die generellen Aussagen der Experten zu der ihnen übertragenen Aufgabe: Weniger als die Hälfte betrachteten sich selbst als „echte Sachverständige", und die Mehrheit verneinte sogar, daß die zur Debatte stehende Frage überhaupt wissenschaftlich entscheidbar sei. Das gibt jedenfalls zu denken.

Ausgehend von der nach Meinung der Autorin somit offenbar gewordenen Alibifunktion der durch die Komplexheit der Fragestellung überforderten Fachwissenschafter greift sie eine Reihe von wissenschaftstheoretisch brisanten Themen auf, die sich zum Teil mit den vieldiskutierten Aussagen von J. Ravetz in seinem Werk „Die Krise der Wissenschaft" decken. Diesen Vorstellungen liegt ein dialektisches Modell zugrunde, welches die Wissenschaft grundsätzlich nicht als Konsens, sondern als Dissensgemeinschaft auffaßt. Konsens werde nur äußer-

lich fingiert, um prestigeschädigende Konflikte mit der Außenwelt zu vermeiden.

Novotny hält ein „kontradiktatorisches" Verfahren für den Wissenschaftsfortschritt angemessener. Es gehe darum, den Dissens zu institutionalisieren. In der abzusehenden Expertokratie der Zukunft müßten „Gegenexperten" eine ebenso legitime Rolle ausüben können wie „offizielle Wissenschafter".

Die Wissenschaft habe ihre „Unschuld" angesichts der von ihr mitverursachten negativen sozialen Auswirkungen längst verloren und müsse daher - so könnte man die Schlußfolgerung der Autorin verkürzen - im Selbstwiderspruch existieren. Als Endergebnis schwebt dieser Vorstellung eine Kontrolle von Wissenschaft und Technik durch „demokratische Partizipation", institutionalisiert durch Gegenexperten, die sozusagen als Anwälte der Öffentlichkeit fungieren, vor.

Eine grundlegende Schwäche dieses Ansatzes hegt darin, daß die Grundlagenforschung fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt kontroversieller Anwendungsbereiche wie der militärischen Forschung, der „Genmanipulation" sowie der Kernenergiefrage gesehen wird. Damit wird man jedoch dem Wesen der Grundlagenforschung nicht gerecht.

Grundlagenforschung ist erkenntnisorientiert und muß ein ausgeprägtes Eigenleben führen. Sie muß vor, wie auch immer motivierten, externen Gehirnwäschen und kurzsichtigen Steuerungen über den Förderungsapparat bewahrt bleiben.

Dagegen ist die Kontrolle der angewandten Forschung mit ihren oft eindeutig erkennbaren Auswirkungen auf die Lebensumstände der Gesellschaft zweifellos ein öffentliches Problem, das aber als solches nicht neu ist und auch laufend gelöst wird. Selbst der Vorschlag, „Gegenexperten" zu institutionalisieren, ist weniger revolutionär, als er aussieht. So stehen sich bereits heute etwa im Bereich ' der Lebensmittelforschung häufig staatliche und von der Wirtschaft getragene Versuchsanstalten gegenüber.

Die Vorstellung, daß Experten durch Gegenexperten kontrollierbar seien, entspricht in vielem der Praxis einer notwendigerweise unvollkommenen Welt. Die Forderung nach dem „kritischen Wissenschafter" als Gegenspieler des „naiven" geht jedoch daran vorbei, daß der Begriff der Wissenschaftlichkeit stets die Personalunion beider Gegenspieler gefordert hat.

Das Umdenken, das heute breite Kreise der Öffentlichkeit und auch die Wissenschaft in Richtung „verantwortlicheres Handeln" drängt sollte vor allem zur Beurteilung wissenschaftlicher Ergebnisse nach gesamtmenschlichen Kriterien durch

den Wissenschafter selbst führen. Äußere Kontrollen sind zweifellos gelegentlich notwendig, sie können aber bestenfalls Randphänomene einer Wissenschaft darstellen, deren Mitglieder sich noch oder schon wieder ethisch verpflichtet fühlen.

(Der Autor ist Direktor des Forschung sförderungsfonds der gewerblichen Wirtschaft)

KERNENERGIE: GEFAHR ODER NOTWENDIGKEIT. Von Helga Novotny. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt 1979,200 Seiten, öS 78,-.

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