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Wie sah man in Österreich den Roten Oktober von 1917?

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Am 9. November 1917 in der Frühe reißen die Bewohner der Donaumonarchie-Metropole Wien den Zeitungsverkäufern in den Straßen die Morgenausgaben aus der Hand. Zwischen den Schlagzeilen, die seit Monaten fast ausschließlich den Kriegsverlauf in Italien behandeln, ist plötzlich ein neues, explo sives Thema aufgetaucht: Ein Putsch in Rußland? Ein Umsturz? Eine Revolution? Genaues wissen auch die Journalisten der bürgerlich-liberalen und christlich-sozialen Presse nicht, während sich die Sozialdemokraten der Bedeutung der Petrograder Ereignisse eher bewußt zu sein scheinen.

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Am 9. November 1917 in der Frühe reißen die Bewohner der Donaumonarchie-Metropole Wien den Zeitungsverkäufern in den Straßen die Morgenausgaben aus der Hand. Zwischen den Schlagzeilen, die seit Monaten fast ausschließlich den Kriegsverlauf in Italien behandeln, ist plötzlich ein neues, explo sives Thema aufgetaucht: Ein Putsch in Rußland? Ein Umsturz? Eine Revolution? Genaues wissen auch die Journalisten der bürgerlich-liberalen und christlich-sozialen Presse nicht, während sich die Sozialdemokraten der Bedeutung der Petrograder Ereignisse eher bewußt zu sein scheinen.

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Skepsis und zugleich Jubel in den Redaktionen der führenden Wiener Tageszeitungen „Reichspost“ (RP), „Neue Freie Presse“ (NFP) und „Arbeiter-Zeitung“ (AZ), als am 8. November 1917 die Meldung über den Sturz der Kerenski-Regierung durch die Bolschewisten aus dem Telegraphen kam. Was war in Petrograd wirklich los? Dr. Friedrich Funder, Chefredakteur der „Reichspost“, verwertete gängige Theaterklischees, um die Ereignisse darzustellen: „Die Petersburger politische Drehbühne zeigt seit gestern wieder ein vollständig neues Bild, einen gänzlichen Wechsel der Szenen und Dekorationen. Der erste Held des Revolutionstheaters wird auf offener Szene davongejagt, muß fliehen, seine Genossen werden eingekerkert und die Macht geht an diejenigen über, die er bis zuletzt mit allen Mitteln der Gewalt und Intrige bekämpft und verfolgt hatte.“ (RP, 9. Nov.)

Im selben Leitartikel interpretiert Dr. Funder die politischen Motive der führenden Revolutionäre: „Nur sind die Beweggründe der leitenden Persönlichkeiten des jetzigen Umsturzes gerade entgegengesetzt zu denen der Drahtzieher der Petersburger Märzrevolution. Hat damals der Kampf gegen die Friedenstendenzen des ernüchterten Zarismus die unter englischem Einfluß stehende Mehrheit der Duma zur Aufpflanzung der Revolutionsfahne veranlaßt, so ist es heute die übermächtig gewordene Friedenssehnsucht des russischen Volkes ..

Aus der Lektion der Märzrevolution (als Februarrevolution in die Geschichtsschreibung eingegangen, weil die Ereignisse nach dem julianischen Kalender im Februar stattfanden) hatten die Christlich-Sozialen offensichtlich nicht allzuviel dazugelernt. Friedenstendenzen des ernüchterten Zarismus? Kampf gegen diese Friedenstendenzen durch die Duma? Lassen wir dazu den bekannten Historiker Günther Stökl zu Wort kommen: „Aber wer war die Revolution und was wollte sie? Die, die demonstrierten und am 27. Februar (12. März) nun mit einemmal auf keinen Widerstand mehr stießen, waren Arbeiter, die Brot, und Soldaten, die keinen Krieg mehr wollten; und in der Uniform der Soldaten waren es zugleich auch Bauern, die den alten Ruf nach Land erhoben“ („Russische Geschichte“, Stuttgart 1973).

Die Fehlinterpretation der Februarereignisse mag auch dazu geführt haben, daß die Christlich-Sozialen den wahren Absichten der Bolschewisten gegenüber blind waren: „Lenins politische Anschauungen lassen sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Die angeblichen slawischen Erlösertendenzen des zaristischen Rußland und seiner demokratischen Nachbeter sind falsch. Die innere Politik Österreich-Ungarns sei weit mehr slawisch als die Rußlands, da sich die slawischen Völker Österreichs stets frei hätten entwickeln können.“ (RP, 8. Nov.) Dazu Univ.-Prof. Walter Leitsch, der sich vor zehn Jahren in einem Artikel in den „österreichischen Ostheften“ - „Die Revolution der Intellektuellen“ - mit demselben Thema beschäftigte: „Die Egozentrik ist verblüffend. Überdies ist es hier Lenin offensichtlich gelungen, ,die Bürgerlichen* irrezuführen.“

Die Fehleinschätzung führte sogar soweit, daß sich die Christlich-Sozialen um den Sieg Lenins echte Sorgen machten: „Leider werden durch die Machtlosigkeit im Lande auch die Friedensbestrebungen der Lenin-Regierung aufgehalten werden..(RP, 14. Nov.)

Und doch war der Jubel im Christi lich-sozialen Lager verständlich, ging es doch darum, den mächtigen Gegner im Osten los zu werden. In der „Reichspost“ wurde das offen bekannt: „Bei den Mittelmächten besteht eine begreifliche Sympathie für die russischen RevolutionsParteien, die das Werk unserer Armeen an Rußland vollendet haben… Von Miljukow bis Trotzki, von Gutzkow bis Kerenski und Lenin, sind sie alle, die Anstifter, Macher, Fortsetzer und Steigerer des russischen Wirrwarrs, relativ sympathisch.“ (RP, 18. Nov.)

Aber es fehlte in den Berichten dieser Tageszeitung auch nicht an Mißtrauen gegenüber den Petrograder Ereignissen. Einerseits also Begeisterung, weil Rußland durch die Machtübernahme der Bolschewisten noch mehr geschwächt worden war, anderseits doch Skepsis in Zusammenhang mit der Frage, was denn wohl wirklich hinter der ganzen Bewegung Lenins stecke. Schließlich blieb bei den Mitarbeitern der „Reichspost“ die Hochstimmung, die im Lager der Sozialdemokraten herrschte, nicht unbemerkt. Die Zustimmung mußte also in irgendeiner Form abgegrenzt werden.

So wurde die „Kundgebung“ der Bolschewisten als „utopisch, unklar, widerspruchsvoll“ bezeichnet (RP, 11. Nov.); den „nichtsozialistischen Kräften“ wurden die „besten Aussichten für die Zukunft“ prophezeit (RP, 18. Nov.), Kerenski, Trotzki und Lenin als „Revolutionsjuden“ hingestellt, die, weil man sie „obenaufkommen läßt“, das mächtigste Land der Welt in kürzester Zeit zugrunde richten würden (RP, 17. Nov.); die „Sehnsucht weiter Volkskreise in Rußland nach einer Rückkehr der Zarenherrschaft“ wurde ebenfalls aufgestöbert (RP, 17. Nov.). Zu guter Letzt fehlte es auch nicht an einer klaren Warnung an die Sozialdemokraten, die die „Sympathien bis zur selbstmörderischen Nachahmung zu übertreiben“ imstande seien: „Die russische Revolution ist für uns ein unfreiwilliger Bundesgenosse, eine Konjunktur für unsere oft erklärte Friedensbereitschaft, eine willkommene Gelegenheit, eine Lehre und Warnung, aber kein Beispiel“ (RP, 18. Nov.).

Auch die „Neue Freie Presse“ vermittelte ihren Lesern ein Büd der Oktoberrevolution, das - vom heutiger Standpunkt aus gesehen - seltsame Farbmischungen aufweist Die Mitarbeiter dieser Zeitung machten bei der Interpretation der Ereignisse beinahe dieselben Fehler wie jene der „Reichspost“, wenn sie sich auch mehrfach um Beiträge einiger Fachleute bemühten.

Titel des Leitartikels, in dem die Machtübernahme durch die Bolschewisten bekannt gegeben wurde: „Der unblutige Sieg des Friedens in Petersburg“. Was noch befremdender anmutet: Die Bolschewisten wurden nicht als die Partei angesehen, als die sie sich von Anfang an zu erkennen gegeben hatten, in den Augen der Bürgerlich- Liberalen waren sie die „Partei des Friedens“. (NFP, 9. Nov.)

Diese Zeitung versuchte auch, in ihre Berichterstattungen eine analytische Note hineinzubringen, wenn sie schrieb: „Die Möglichkeiten, die sich an die Umwälzung in Petersburg knüpfen, sind davon abhängig, wie sich die Bauern und die Armee zu den neuen Machthabern verhalten werden.“ Die Antwort wurde in demselben Artikel gegeben: „Die große Masse der Bauern dürfte für ihn (Lenin) sein. Die Soldaten sind meistens Bauernsöhne, die voll Ungeduld den Frieden erwarten und nach Hause möchten, um bei der Landverteilung nicht abwesend zu sein“ (NFP, 9. Nov.).

Die krasseste Fehlinterpretation leistete sich das Blatt jedoch, als es über die Ziele der Bolschewisten berichtete, heutzutage ein Dokument geradezu unglaublicher Unkenntnis und Verworrenheit- „Sie verlangen die soziale Revolution und wenden sich insbesondere gegen den Wunsch, durch Kompromisse das Parteiprogramm zu verwässern, wie es die Minimalisten mit ihrem Führer Plechanow wollten.

Sie sind entschiedene Gegner des Marxismus und der Sozialdemokratie und nennen deren Führer wissenschaftliche Reaktionäre. Die Organisation der Partei soll demokratisch und nicht zu zentralistisch sein.“ (NFP, 9. Nov.)

Ob man’s glaubt oder nicht: Die „Neue Freie Presse“ sah der Regierungsübernahme der Bolschewisten sogar mit Zuversicht entgegen: „Ob die Bauern und Arbeiter, die sich vereinigt haben, Rußland den Frieden zu geben, die Gestaltungsfähigkeit besitzen, ein Weltreich zu regieren, kann heute niemand entscheiden. Aus dem Bauernstände sind überall Kräfte des öffentlichen Lebens aufgestiegen, und ohne die verjüngenden Einflüsse der Scholle, ohne die Menschen, die in der Kindheit und Jugend im Dufte der reifenden Kornähren aufgewachsen sind, würde jede Gesellschaft versumpfen.“ (NFP, 11. Nov.)

Noch am Tag der Machtübernahme stand in der „Arbeiterzeitung“ unter dem Titel „Der Kampf um die russische Armee“ zu lesen: „So kämpfen heute in Rußland die Parteien um die Armee. Jede der beiden Parteien, Bourgeoisie und Demokratie, sucht sich der Waffengewalt zu versichern. Der Klassenkampf scheint sich der Stunde der Entscheidung zu nähern, in der nur noch die Waffen zu entscheiden vermögen. Mit ängstlicher Spannung verfolgen die Arbeiter aller Länder den Verlauf des großen Schauspiels, dessen Ausgang die Zukunft aller Völker der Erde mächtig beeinflussen wird.“ (AZ, 7. Nov.)

Auch über den absoluten Machtanspruch der Bolschewisten schien man sich in diesem Blatt im Klaren zu sein: „Jetzt aber ist die Führung der Demokratie und damit auch die Macht im

Staate in die Hände der radikaleren demokratischen Parteien, der sozialdemokratischen Bolschewiki und des linken Flügels der Sozialisten-Revolutionäre übergegangen…, (sie) lehnen jede Koalition mit bürgerlichen Parteien ab.“ (AZ, 10. Nov.)

Daraus zeigt sich, daß die Sozialdemokraten das Geschehen in Petrograd klarer sahen, als ihre politischen Gegner in Österreich-Ungarn. Die Journalisten der „Arbeiter-Zeitung“ wußten auch zwischen den verschiedenen sozialistischen Parteien und Strömungen zu unterscheiden. Kein Wunder: Sie hatten in Otto Bauer einen Berater und Mitarbeiter, der die russischen Verhältnisse persönlich kannte. Bauer befand sich während der Februarrevolution in einem Kriegsgefangenenlager in Sibirien. Nach seiner Freilassung nahm er sogar an Sitzungen verschiedener Ausschüsse des Arbeiterund Soldatenrates teil und kam in Kontakt mit menschewistischen Ministern. Er kannte also die,.Macher“ der Revolution, kannte ihre politischen Motive sowie Zielsetzungen, und das half seinen Parteigenossen bei der Interpretation ein Stück weiter.

Professor Leitsch schrieb in seiner bereits erwähnten Broschüre über die Haltung der Sozialdemokraten zur Oktoberrevolution: „Otto Bauer und die Mitarbeiter der .Arbeiter-Zeitung* dachten wie die Menschiwiki und Sozialrevolutionäre in Klassenkategorien, sie konnten die Ereignisse inPe- trograd eben nicht anders sehen, diese mußten für sie eine Machtergreifung der Arbeiter sein… Die möglichen Konsequenzen des Programmes (Lenins Programm) konnten sie nicht erkennen, und man kann ihnen keinen Vorwurf daraus machen, daß sie die Machtergreifung der Bolschewiki als Sieg der Demokratie deuteten.“

Was zeigt die Auswertung der Artikel dieser drei Zeitungen von 1917 für den heutigen Betrachter? Die Christlich-Sozialen und Bürgerlich-Liberalen hatten die Lage in Rußland offensichtlich verkannt Sich jedoch über einzelne Auszüge lustig zu machen, wäre unklug, wäre dumm. Dr. Funder und seine Zeitgenossen waren ungenügend informiert - schließlich stand man im Krieg mit diesem Rußland; ihre Analysen projektierten die eigenen Wünsche, waren von den eigenen Erwartungen dominiert. „Zeitgenossen irren sich, weil sie sich irren wollen“, meinte dazu Professor Kurt Marko. Das gilt für heute genauso wie für damals. Fazit: Es gilt, skeptisch zu bleiben, auch gegenüber den eigenen Interpretationen.

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