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Wie war es damals ?

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Wie war es doch damals, in jenen April- und Maitagen 1945, als auch in Österreich eine Welt zusammenbrach und eine neue die ersten schüchternen Ansätze des Werdens erkennen ließ? Wer damals dabei war, wird diese Tage nie vergessen, ob er das Kriegsende beim Kampf um Wien, in der letzten Auffangstellung am Semmering oder in einem der riesigen Sammellager der Russen oder Amerikaner miterlebt hat. Die Zusammenschau dieser Erlebnisse von fast eineinhalb Millionen Menschen müßte ein Inferno ergeben, würdig, neben den großen Kriegsromanen Pliviers von Stalingrad, Moskau und Berlin zu bestehen.

Wie aber steht es neben diesem Mikrokosmos der Erlebnisse des einzelnen Teilnehmers um den Makrokosmos des Generalstabsoffiziers, des Militärhistorikers, der gewohnt ist, mit Armeen und Divisionen zu rechnen, statt mit dem einzelnen Menschen und den diesem überblickbaren kleinen Einheiten? Wie spielten sich die letzten Wochen des zweiten Weltkriegs auf diesem Kriegsschauplatz auf der Generalstabskarte der Oberkommanden beider Seiten ab?

Der totale Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches, die Auflösung all dessen, was bis dahin als bindend gegolten hatte, vernichtete auch vieles von dem, was dem Historiker später als Grundlage seiner Forschungen dienen mußte, Kriegstagebücher, Truppenakten, Dokumente. Niemand kümmerte sich, als alles vorbei war, darum, was nun mit dem Material geschehen sollte, das man durch mehrere Kriegsjahre geführt und gehütet hatte. So dauerte es ein Vierteljahrhundert, bis es gelang, aus allmählich wieder verfügbaren Archiven, aus mühsam rekonstruierten Quellen, aus zahllosen kleinsten Mosaiksteinchen das Bild wiederherzustellen, das auch den Historiker befriedigen konnte.

Manfred Rauchensteiner legte gerade zum 25. Jahrestag der Zweiten Republik als Band 5 der Schriften des Heeresgeschichtlichen Museums im österreichischen Bundesverlag dieses Bild vor. Nach einem Überblick über die in Einzelheiten noch unbekannte politische Vorgeschichte der strategischen Planungen der Sowjets in Richtung Österreich, exerziert er quasi im Sandkasten noch einmal die großen Bewegungen der Armeen durch, zuerst den Krieg um Wien und in Niederösterreich, dann die Kämpfe an der steirischen Südfront sowie jene gegen Amerikaner und Franzosen im Norden und Weiten.

Wo ihm die Stabsakten oder Ubersichtswerke beider Seiten als Grundlage dienten, werden die Operationen, die für Hunderttausende zum Schicksal wurden, zu Strichen auf der Landkarte. Wo er auf Gemeindeakten, auf Memoiren, auf Erlebnisberichten aufbaut, tritt der Mensch in den Vordergrund. Das Chaos wird deutlich, wenn auf dem Reißbrett Divisionen verschoben werden, die kaum noch Kompaniestärke besaßen, oder wenn Volkssturm- und Hitlerjugend-Einheiten Panzerangriffe abwehren sollten; wenn Befehlshaber abgesetzt wurden, weil sie Übergabeverhandlungen einleiteten, und Menschen gehenkt wurden, die bemüht waren, noch schwerere sinnlose Verluste zu vermeiden.

In einer gewaltigen Detailarbeit hat Rauchensteiner alles an Material ausgewertet, was ihm im In- und Ausland zur Verfügung stand, die Geschichtswerke der Alliierten ebenso wie die Memoiren beteiligter Generäle, Zeitungsartikel ebenso wie Gemeindeberichte oder mündliche Aussagen, etwa jene des damaligen Majors i. G. Lütgendorf. Das bedeutete nicht nur, die aus der Naheinstellung vielfach verzerrten Feststellungen der Teilnehmer auf ihre historische Gültigkeit zu prüfen, sondern auch die oft stark übertreibenden Siegesmeldungen der Russen, die bis in die sowjetischen Standardwerke zur höheren Ehre der beteiligten Heroen übernommen wurden, auf das wahre Ausmaß zurückzuführen.

Der Abstand von 25 Jahren und die Objektivität des Historikers, wohl aber auch die Sicht aus der Generalstabsperspektive — sie alle halfen mit, ein Werk vorzulegen, das wohl zum erstenmal jene Ereignisse nicht mehr mit der natürlichen Emotion des Beteiligten schildert, sondern rein feststellt, was gewesen ist. Das erlaubt dem Autor trotzdem die Frage, ob nicht ein Gelingen der Aktion Käs Wien ein ähnliches Schicksal wie Warschau beschert hätte.

Mit diesem Werk werden aber auch die Bemühungen des damaligen Leiters der Militärwissenschaftlichen Abteilung des Verteidigungsministeriums, Dr. Johann Chr. Allmayer-Beck, bestätigt, der schon 1959 beschloß, dem rein militärischen Ablauf der letzten Kriegsmonate auf österreichischem Boden nachzuspüren. Heute kann er als Herausgeber der Schriftenreihe, inzwischen zum Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums aufgerückt, auf die Vorarbeiten hinweisen, die die Teilnehmer am 3. Generalstabskurs der damaligen Stabsakademie des Bundesheeres als Hausaufgaben beisteuern konnten. Er skizziert auch im Vorwort die über die reine Geschichtsforschung hinausreichende Zielsetzung dieser Arbeit, „mit der Zeit im Geschichtsbild unserer Generation eine Lücke zu füllen, in der sich in den zurückliegenden Jahren nicht selten bereits Legenden und Mystifikationen anzusiedeln begonnen haben, sie zu zerstören und an ihre Stelle die Grundzüge einer ruhigen und objektiven Darstellung zu setzen ...“

KRIEG IN ÖSTERREICH 1945. Von Manfried Rauchensteiner.

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