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Wieder einmal: Chance und Risiko

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Wo sind die Studentenrevoluzzer und Hippies geblieben? Sie haben die Eier ausgebrütet, aus denen die Kernkraftgegner schlüpften! Das Ganze ist aber nicht eine Verschwörung zum Sturz der Gesellschaft, sondern ein unausweichlicher Prozeß der Neuinterpretation

grundlegender Werte. Diese kann gelingen und damit die Gesellschaft gerettet werden, oder in „prätorianischen“ Gewaltregimes und damit im kulturellen Verfall enden. Eine faszinierende These zum Nachdenken...

Unsere westliche Zivilisation ist im frühen Mittelalter aus der Verbindung von Elementen der klassischen griechisch-römischen Antike und der jüdisch-christlichen Prophetie entstanden. Zu ihren grundlegenden Werten gehören der Glaube an eine mit den Mitteln der menschlichen Vernunft verständliche Ordnung der Welt, an die Einzigartigkeit des Individuums, das mit unveräußerlichen Rechten geboren wird, an die bindende Natur von freiwillig eingegangenen Gemeinschaften, an die Notwendigkeit einer Abgrenzung zwischen den Ansprüchen der Individuen und denen der Gemeinschaft durch eine Rechtsordnung, und an den Wert der Arbeit in dieser Welt nicht nur als bittere Notwendigkeit, sondern als Sinnerfüllung des Lebens.

Normen und Institutionen müssen immer wieder in Anpassung an die neuen Lebensbedingungen verändert werden. Wenn dies gelingen soll, ohne daß der Zusammenhalt verloren geht, den die kulturelle Ordnung gewährt hat, müssen die Werte selbst immer neu interpretiert werden, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren. So ist im Laufe der westlichen Geschichte der Glaube an eine vernünftige Ordnung der Welt zunächst als Glaube an eine gottgegebene Ordnung, dann zunehmend als Glaube an eine universelle Naturgesetzlichkeit, schließlich auch als Glaube an eine Gesetzmäßigkeit des geschichtlichen Fortschritts aufgefaßt worden. Die unveräußerlichen Rechte des Individuums erschienen zunächst als Rechte eines jeden nach seinem Stande, seit der Aufklärung zunehmend als gleiche bürgerliche und politische Rechte auf gleiche soziale Chancen und gleiche soziale Sicherheit.

Die Bindung an die freiwillig eingegangene Gemeinschaft, ursprünglich die christliche Gemeinde oder die sich selbst verwaltende Stadt, verwandelte sich in Bindungen an die Nation oder an kämpferische soziale Bewegungen; Ansätze einer Bindung an nationsübergreifende, kulturelle oder auch universelle Gemeinschaften sind zu erkennen.

Der Glaube an den sinngebenden Wert der Arbeit als Aufgabe in einer gottgegebenen Arbeitsteilung wurde als Wert der Anstrengung zur Erreichung von materiellem Erfolg im Diesseits als Anzeichen des jenseitigen Heils, und schließlich als Kampf um den materiellen Erfolg als solchen und den materiellen Genuß als seinen Lohn umgedeutet.

Die immer neue Lösung dieser Umdeutungsprobleme in Anpassung an neue Stufen der gesellschaftlichen Entwicklung ist aber nicht sebstver-ständlich. Vielmehr erfolgt die Umdeutimg der Werte genau wie die Änderung der Verhaltensnormen und Institutionen, die sie begründen soll, im Zuge von politischen, sozialen und weltanschaulichen Kämpfen, deren Ausgang nicht vorbestimmt ist.

Sie kann auf kürzere oder längere Zeit mißlingen, wie in der großen Kulturkrise der Renaissance, als die Verhaltensnormen des mittelalterlichen Katholizismus und die ihnen angepaßten Institutionen der fortgeschrittenen Teile Europas nicht mehr entsprachen, die Herausarbeitung neuer Normen durch Reformation und neuer Institutionen durch den modernen Staat aber Jahrhunderte in Anspruch nahm.

Zugleich mit einer Vielfalt neuer Ideen charakterisierten der massenhafte Einbruch von Aberglauben und Hexenwahn, das Auftreten zahlreicher utopischer und antinomischer Sektenbewegungen und die weitverbreitete Auflösung der Moralnormen dieser Epoche. Zwischen den grundlegenden Wer-

ten einer Zivilisation besteht ein innerer Zusammenhang, wenn man will, ein natürliches Gleichgewicht der Art, daß kein einzelner Wert auf Kosten der anderen einseitig überbetont, geschweige denn zum „höchsten Wert“ heraufstilisiert werden darf, wenn die Zivilisation entwicklungsfähig bleiben soll.

Eine der geschichtlichen Leistungen des Glaubens an einen transzendenten Gott war, daß er ein Hindernis für die Absolutsetzung eines diesseitigen „höchsten Wertes“ bildete -nach Verlust des Gottesglaubens wird die Gefahr solcher Verabsolu-

tierung einzelner irdischer Werte größer.

Es scheint nun, daß in der westlichen Entwicklung der Neuzeit im Zeichen der Herausbildung des industriellen Kapitalismus und des Nationalstaates eine solche „Wertverzerrung“ gleich in zwei wichtigen Richtungen stattgefunden hat: in der Uberbewertung des materiellen Erfolgs des einzelnen und in der Uberbewertung der Nation.

Beide in der neuzeitlichen Entwicklung des Westens entstandenen Wertverzerrungen sind gewiß seit langem nicht nur von einsichtigen Einzelnen, sondern von großen Bewegungen bekämpft worden. So haben der internationale Sozialismus, aber zum Teil auch die christlichen Kirchen in der einen oder anderen Form versucht, sich dem Nationalismus einerseits, der kapitalistischen Profiljagd andererseits entgegenzustellen oder sie wenigstens unter Kontrolle zu bringen.

Ihre Erfolge sind freilich nicht nur im politischen Ergebnis, sondern auch in der Entwicklung der praktisch das Handeln des Homo occiden-talis bestimmenden Werte und Normen beschränkt geblieben. Im Lauf des letzten Jahrzehnts sind ganz neue Herausforderungen aufgetreten, die erneut von anomischen Krisenerscheinungen begleitet sind und deren Überwindung noch ungewiß ist.

Die materiellen Veränderungen beginnen mit der Annäherung an „Grenzen des Wachstums“ in der Rohstoff- und Energieversorgung, die inzwischen durch die Ölkrise dramatisiert worden sind. Sie umfas-

sen auch den zunehmenden Ernst und das zunehmende Bewußtwerden der umweltzerstörenden Nebenwirkungen der beschleunigten Industrialisierung.

Sie bewirken einerseits, daß ein weiteres Wachstum im Tempo des Vierteljahrhunderts nach dem Zweiten Weltkrieg von vielen als weder wahrscheinlich noch wünschenswert angesehen wird, und andererseits daß zur Vermeidung unzumutbarer Zerstörungen oder plötzlicher Engpässe sowie zur Sicherung eines hohen Beschäftigungsniveaus unter den veränderten Bedingungen neue

Formen strukturpolitischer Eingriffe in die kapitalistische Marktwirtschaft unvermeidlich werden.

Eng verbunden mit diesen inneren Problemen der westlichen Wirtschaft ist die Problematik einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen den westlichen (und übrigens auch östlichen) Industrieländern einerseits und den Entwicklungsländern anderseits, zu denen auch die zunehmende Dramatik der Frage nach der Zukunft der Weltbevölkerung und ihrer Ernährung gehört.

Die Änderungen im Verhalten wichtiger Teile der jungen Generation scheinen ihre Grundlage einmal in der Erschütterung des Fortschrittglaubens durch die Weltkriege und Weltkrisen dieses Jahrhunderts, damit aber auch im weitgehenden Verlust des Glaubens an eine rational verständliche Weltordnung zu haben.

Zum anderen wurzeln sie in der Schwächung der Familienbindungen und speziell der Bindungen an die Eltern- und Lehrergeneration, die auf die immer raschere technische Veränderung der Lebensbedingungen im Laufe des industriellen Zeitalters zurückgehen, die ja über die Produktionssphäre hinaus tief in die Privatsphäre eingegriffen hat.

Das hat mit der Entwicklung der Frauenemanzipation einerseits, der zunehmenden Kontrollierbarkeit der Geburten anderseits, bis hin zur Pille begonnen. Das äußert sich in dem Zusammenhang von wachsenden Ansprüchen an den Lebens- und besonders den Wohnungsstandard und

abnehmender Geburtenrate, aber auch in der seit Generationen stetig fortschreitenden Lockerung der Sexualnormen und zunehmend genußbetonten Sexualethik für beide Geschlechter.

Das geht einher mit der immer rascheren Umwälzung der Konsum-und Freizeitsphäre durch neue Techniken bis hin zum Fernseher und zur Fernreise. Alle diese Veränderungen bewirken, daß die Jugend mit neuen Alltagserfahrungen aufwächst, die den Älteren nicht vertraut sind, die sie sich daher nicht mehr zu Vorbildern nehmen kann.

Zugleich leidet unter dem Mangel an glaubhaften Vorbildern die Identitätsbildung in der zunehmend „außengesteuerten“ jungen Generation, und die resultierende „Ich-Schwäche“ verbindet sich mit der äußeren Desorientierung als Faktor der allgemeinen Lebensangst.

Weltbildverlust und Bindungsverlust zusammen erklären das häufige Phänomen des „Sinnverlustes“, der bei vielen Jugendlichen des Westens im letzten Jahrzehnt entweder zur Revolte oder zum passiven Rückzug aus der Gesellschaft - in Hippie-Kommunen, in Drogenkulte, neuerdings in pseudoreligiöse Jugendsekten - geführt hat.

Mit all diesen Erscheinungen haben wir offenbar Symptome einer neuen anomischen Krisenphase beschrieben, die diesmal nicht, wie seinerzeit die Phase des nationalsozialistischen Ausbruchs, eine von den Zeitproblemen damals besonders schwer betroffene Nation, sondern Teile der Jugend aller westlichen Nationen ergriffen hat.

Die erste Form, in der diese Kulturkrise politischen Ausdruck fand, war die Studentenrevolte der späten sechziger Jahre, die sich ideologisch großenteils als Abfall von der demokratischen Ordnung und als Proklamation revolutionärer Ziele in mehr oder weniger „marxistischer“ Sprache manifestierte.

Wenig ist von der Bewegung in dieser Form übrig geblieben. Die meisten ihrer damaligen Teilnehmer, die weiterhin politisch aktiv sind, haben sich zur Aktivität innerhalb der

„formaldemokratischen“ Prozeduren und entsprechend zu reformerischen Zielen bekehrt. Die permanente Weigerung, die Legitimität der demokratischen Ordnung anzuerkennen, beschränkt sich auf die marginalen Gruppen der Terroristen und das sie umgebende „freiwillige Ghetto“ in einigen Ländern.

Dennoch wäre es falsch, aus dem Abklingen des utopischen Rausches jener Jahre zu schließen, daß die Studentenrevolte als Ganzes politisch folgenlos geblieben sei. Vielmehr hat sie eine breite Schicht von inzwischen herangewachsenen Intellektuellen in dem Sinne geprägt, daß diese zu Trägern eines Wertwandels in durchaus nicht notwendig utopischer Richtung geworden sind.

Die Ideen einer Abkehr vom Primat des Wirtschaftswachstums und der Konsumsteigerung, damit aber auch einer mehr oder weniger weitgehenden Abwertung der „Leistungsgesellschaft“, eines neuen Bewußtseins der Gefahren der Umweltzerstörung und einer neuen Verpflichtung gegenüber der notleidenden Mehrheit der Menschheit sind heute in der öffentlichen Diskussion des Westens und auch innerhalb seiner demokratischen Parteien weit verbreitet - ohne jedoch aufgehört zu haben, kontrovers zu sein.

An kritischen Punkten, wie bei der Beurteilung neuer Kernkraftwerke (unentbehrlich für notwendiges Wirtschaftswachstum oder unerträglich für die Sicherheit der menschlichen Umwelt?) sind diese Fragen auch heute noch potentiell höchst explosiv.

Die konkrete Herausforderung für die Legitimität der westlichen Demokratien liegt nach meiner Überzeugung in dieser Richtung. Die Frage ist, ob es den politisch und geistig führenden Gruppen gelingen wird, den durch die veränderten Existenzbedingungen notwendig werdenden Wandel zugleich akzeptieren und in den Grenzen der Kontinuität der westlichen Grundwerte zu halten.

Nur wenn dieser Prozeß der Anpassung unserer Normen und Institutionen und der Umdeutung unserer Werte gemäß den neuen Bedingungen und Problemen der Gegenwart gelingt, wird auch die Legitimität unserer demokratischen Ordnungen erhalten bleiben. Scheitert der notwendige Wandel, so wird die anomische Kulturkrise sich ausbreiten und diese Legitimität zunehmend untergraben, bis das demokratische System am mangelnden Wertkonsens zerbricht.

Die wahrscheinliche politische Alternative wäre in diesem Fall freilich nicht eine kommunistische Revolution. Die neuere Erfahrung zeigt, daß es in entwickelten Industrieländern aufgrund der Abhängigkeit der Existenz der Massen vom Funktionieren komplizierter Verwaltungsapparate nirgendwo echte Revolutionen gegeben hat, weder demokratische noch kommunistische - höchstens Machtergreifungen „von oben“, wie durch Hitler in Deutschland oder durch die Kommunisten in der Tschechoslowakei.

Die wahrscheinliche Alternative im Fall eines Scheiterns des Wertwandels in der westlichen Welt wäre eine Folge „prätorianischer“ Gewaltregime - und diese sind, wie schon Spengler wußte, die natürliche politische Form des kulturellen Verfalls.

*

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus dem in den „IBM-Nachrichten“ 243 veröffentlichten Vortrag des Verfassers im Europäischen Forum Alpbach 1978.

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