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Wieder Lust am Lesen wecken

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Ein Gespenst geht um in den entwickelten Industriegesellschaften: der neue Analphabetismus.

Internationale Organisationen haben sich in den letzten Jahren zunehmend mit dem neuen Phänomen befaßt, es werden internationale Konferenzen veranstaltet und empirische Forschungen in Auftrag gegeben.

Analphabetismus galt bis vor wenig mehr als einem Jahrzehnt als ein typisches Merkmal der Dritten Welt, unterentwickelter Länder. Vertreter europäischer Industrienationen (darunter auch die Österreichs) waren stets indigniert darüber, daß etwa bei der UNESCO immer wieder das bildungspolitische Problem der Bekämpfung des Analphabetismus auftauchte. Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht schien nämlich diese Problematik endgültig von der bildungspolitischen Tagesordnung abgesetzt.

Umso schockierender war dann die Erfahrung, die etwa in der ersten Industrienation der Welt, in England, gemacht werden mußte — daß Menschen die einmal erworbene Fertigkeit des Lesens und Schreibens wieder verlernen konnten.

Die Erklärungen für das Auftreten des neuen („funktionellen“, „sekundären“) Analphabetismus sind vielfältig: von den Mängeln des Schulunterrichts (was nicht ordentlich gelernt worden ist, wird umso leichter wieder verlernt) über die mangelhafte vorschulische Erziehung im Elternhaus (die infolge unzureichender kompensatorischer Maßnahmen in der Schule nicht wettgemacht wird) bis hin zu den neuen Medien (die traditionelle Kulturtechniken wie das Lesen eben zunehmend verdrängen) reicht die Palette der angegebenen Ursachen.

So wichtig die wissenschaftliche Untersuchung der Ursachen des Verlernens von Lese- und Schreibfertigkeit ist, so notwendig ist aber auch das gleichzeitige Vorbereiten kompensatorischer Maßnahmen in der vorschulischen und schulischen Erziehung sowie die Erwachsenenbildung.

Denn gerade weil es nicht nur eine, sondern zahlreiche einander ergänzende oder sogar verstärkende Ursachen für den neuen Analphabetismus gibt, müssen die Gegenmaßnahmen differenziert und breit gestreut, von theoretischer Überlegung und empirischer Forschung angeleitet und ergänzt, aber auch von ständiger kritischer Reflexion begleitet sein. Das fordert eine Reform und Ergänzung des schulischen Unterrichts, Ausbau und Verbesserung der Elternbildung (aber auch flankierende sozialpolitische Maßnahmen, wie Verbesserung der Wohnverhältnisse) sowie neue Angebote in der Bildungsarbeit mit Erwachsenen.

In Österreich wird jedenfalls im Bereich der Erwachsenenbildung seitens des Unterrichtsministeriums gemeinsam mit interessierten Einrichtungen der Erwachsenenbildung der energische Versuch unternommen, eine Reihe von Bildungsangeboten zu entwickeln oder auszubauen, die der Wiederherstellung bereits einmal erworbener Lese- und Schreibkompetenzen, aber auch deren Erweiterung dienen sollten.

Dabei geht es um neue Wege der Bildungsinformation und -Werbung ebenso, wie uni neue Unterrichtsinhalte und -methoden, zum Beispiel um die Entwicklung von Selbststudienmaterial, um Lernen in kleinen Gruppen, um neue Formen der Lern- und Bildungsberatung.

Der Einsatz von Selbststudienmaterial und Fernunterricht (in Zusammenarbeit mit Radio und eventuell auch Fernsehen) ist nicht nur methodisch sinnvoll, sondern auch kostengünstig. Die Entwicklung von Selbststudienmaterial zwingt zu klaren, präzisen Grundkonzepten und zu ebensolchen Ausarbeitungen von Texten und weiteren Begleitmedien. Die Produktion von Selbststudienmaterial und der Einsatz von Fernunterricht erleichtern das Erreichen von Adressaten und gestatten eine genauere begleitende Auswertung als Präsenzlehrgänge.

Die Vermittlung von Kulturtechniken muß verbunden werden mit Einsichten in gesellschaftliche Ursachen individueller Mängel: dies erleichtert — gerade im Erwachsenenalter — die Rückkehr in den Bildungsprozeß und kann Lernmotivationen stei-i gern. Soll die Fertigkeit des Lesens dauerhaft (wieder) erworben werden, dann sollte der Umgang mit Schriftlichem zur alltäglichen Gewohnheit werden. Bedingung dafür wiederum ist, daß die für das Lesen notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten möglichst umfassend erworben worden sind. Dazu gehören: der Umgang mit verschiedenen Textsorten (von den Buchstaben des Alphabets über einzelne Worte und Sätze bis zu zusammenhängenden Texten, von Warenbeschriftungen über Gebrauchsanweisungen bis zu amtlichen Formularen), das Erfassen von Textinhalten und deren gedächtnismäßige Speicherung, das Trainieren von längeren Aufmerksamkeitsspannen ...

Das Lesen von Comics, das blitzschnelle Erfassen des Zusammenhanges von Bildern, Texten von einzelnen Gags, das Lesen einer Szene eines Theaterstückes, eines Gedichts, einer kurzen Erzählung, eines umfangreichen Romans oder eines wissenschaftlichen Aufsatzes haben jeweils unterschiedliche, besondere Kenntnisse und Fertigkeiten zu ihrer Voraussetzung, die üblicherweise auch im höheren Schulwesen und an Universitäten eher individuell autodidaktisch erworben, denn systematisch und geplant vermittelt werden können.

Insgesamt wird daher ein mehrstufiges Bausteinprogramm zu erstellen sein, das von der Kompensation von Bildungsdefiziten bis zur Vermittlung von fortgeschrittener Lese- und Schreibkompetenz (wie etwa im Zusammenhang mit dem Zweiten Bildungsweg und der Vorbereitung auf den Universitätszugang) reichen soll. ^-

Der Autor ist Leiter der Abteilung Erwachsenenbildung im Unterrichtsministerium.

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