6816863-1973_14_06.jpg
Digital In Arbeit

Wieder Messmer

Werbung
Werbung
Werbung

In der Abendzeitung „Le Monde“ fand der Leser kürzlich eine höchst unauffällige Zeichnung. Sie illustriert am besten den gegenwärtigen Zustand nach den französischen Par-lamen/tswahlen vom März 1973: auf einem riesigen Kasten stehen einige Marmeladetöpfe. Eine winzige Marianne klettert auf zwei Bücher mit den Titeln „Gemeinsames Programm“ und „Provins“. Trotz des Ersatzschemels erreicht die Kleine die Naschereien nicht. Millionen Franzosen glaubten den Versprechungen des sozialistisch-kommunistischen Programms, während die zweieinhalbstündige Rede des Ministerpräsidenten Messmer am 7. Jänner 1973 in Provins dazu diente, den Mangel an Doktrin bei den Gaullisten zu überdecken. Zur Verwunderung vieler deklarierten nun die beiden größten Gewerkschaftszentralen, also die CGT und die CFDT, in den letzten Tagen die Ausführungen Messmers als Grundlage der eigenen Forderungen.

Die neue Regierung wird daher nicht umhin können, die Enuntiatio-nen Messmers in die Tat umzusetzen. Denn man ist sich vollkommen darüber im klaren, daß die gegenwärtige Mehrheit am 11. März eine Warnung einstecken mußte. Diese kann, wenn sie nicht richtig begriffen wird, im Jahre 1976 höchst unangenehme Folgen zeitigen. 1976 läuft nämlich Pompidous Amtsperiode ab. Die durch die Verfassung von 1958 gestärkte Position des Präsidenten der Republik muß neu besetzt werden. Im Laufe des Wahlkampfs rückten einige Thesen in den Vordergrund, die aus der Diskussion der nächsten Zeit nicht verschwinden werden. Wir sehen von der immer noch bestehenden Wohnungsnot ab und wollen auch nicht die Stellung der Betriebsräte in ihren Betrieben erörtern oder die Fragen der Städteplanung im einzelnen aufrollen.

Drei heiße Eisen werden Regierung und gesetzgebende Versammlung ohne Zweifel anfassen müssen. Eines davon zeigte sich gerade in den Anfangstagen des Frühlings. Die 14- bis 16jährigen, zum großen Teil Mittel- und Fachschüler, protestierten in den Straßen der französischen Städte. Sie demonstrierten für die Abschaffung des sogenannten Debre-Gesetzes. Dieses wurde am 10. Juni 1970 von der Kammer fast einstimmig (die Sozialisten votierten dafür, die Kommunisten enthielten sich) angenommen. Damals wurde die Militärdienstzeit von 16 auf 12 Monate reduziert, wobei aber der Student sofort nach der Matura einrücken muß und ihm jeglicher Aufschub verweigert wird. Diese Verfügung sollte 1973 in Kraft treten. Von den Mädchen mehrheitlich unterstützt, empörten sich daraufhin die Gymnasiasten. Damit wird die Zukunft der Volksarmee, des jahrhundertelangen Stolzes der Nation, in Frage gestellt. In der heranwachsenden Generation macht sich ein starker Antimilitarismus breit. „Von der Staatsführung wurde immer wieder betont, Frankreich lebe im Frieden mit der gesamten Welt und sei von niemandem bedroht. Warum also be bauen. Dies entspricht natürlich in keiner Weise den Traditionen von 1789, und der bisherige Armeeminister Debre wird nicht der Mann sein, der die allgemeine Militärpflicht liquidiert. Dagegen sind den Jungen in den Gymnasien und auf den Hochschulen die Begriffe eines überspitzten Nationalismus fremd geworden.

Die Gleichstellung von Mann und Frau wurde von allen Parteien proklamiert. Damit liegt es in Frankreich noch sehr im Argen. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ ist ein viel verwendetes Wort. Es entspricht in den seltensten Fällen der Wirklichkeit. Von den französischen Wählern sind 52 Prozent Frauen, aber unter den insgesamt 490 Abgeordneten haben lediglich 8 Damen einen Sitz im Palais Bourbon. Selbst die Linksparteien zeichnen sich in diesem Fall nicht aus, denn unter den genannten 8 weiblichen Vertretern gibt es nur 3 Kommunistinnen und keine einzige

Geschlecht schon im politischen Sektor viele Rechte beschnitten, so harrt ein besonders schwieriges Problem einer Lösung. Die Versuche, geschiedene Frauen, Witwen und ledige Mütter besser zu stellen, sind äußerst zaghaft. Was die Schwangerschaftsunterbrechung betrifft, so werden deren in Frankreich nach vorsichtigen Schätzungen 1 Million

pro Jahr heimlich durchgeführt. Nach einem Gesetz aus dem Jahre 1920 wird die Abtreibung als schweres Verbrechen klassiert. Premierminister Messmer stellte in Provins eine Reform dieses Paragraphen in Aussicht. Damit stößt er allerdings auf eine reservierte konservative Wählerschaft.

Die Linksparteien plädieren, wie überall, für die Freigabe der Schwangerschaftsunterbrechung in den ersten drei Monaten. In der Wahlkampagne sprachen sie jedoch herzlich wenig darüber. 4000 bis 5000 Frauen sterben jährlich an verbotenen Eingriffen. Einige kürzlich stattgefundene Prozesse zeigten, daß Richter und Staatsanwälte bei der Beurteilung dieses Tatbestands höchst unsicher geworden sind. Gewisse katholische Theologen und Ärzte drückten, wie überall, ihre Bedenken bezüglich der Kriminalisierung der Abtreibung aus. Es ist anzunehmen, daß in diesem Punkt von allen Seiten Klarheit gewünscht wird.

Schließlich muß auf eine Sache hingewiesen werden, die durch unzählige Veröffentlichungen der vergangenen Monate die Öffentlichkeit schockierte. Zitieren wir noch einmal „Le Monde“. Zwischen den beiden Wahlgängen verblüffte dessen Redaktion mit einer Artikelserie über die Prostitution. Da wurden Tatsachen mit eindrucksvollen Zahlen mitgeteilt, die im Schatten der Wohlstandsgesellschaft wuchern und das Antlitz der Nation verunzieren. 15.000 Zuhälter, 100.000 Dienerinnen der käuflichen Liebe, ein unversteuerter Gewinn von 6 Milliarden Francs, das läßt aufhorchen! Eine Gesellschaft, in der heute noch die schlimmsten Abarten des Sklavenhandels getrieben werden — manchmal von hohen Polizeioffizieren, wie in Lyon und Lille, gedeckt —, drängt zu umfassenden und schleunigen Maßnahmen. Mutige Leute wie der katholische Priester Talvas, Gründer der größten privaten Hilfsorganisation für Prostituierte, publizieren laufend Dokumente, die, wenn sie nicht der Wahrheit entsprechen, in den Bereich einer recht morbiden Phantasie gehörten.

Projektieren also Regierung und Majorität eine neue Gesellschaftsordnung, so müssen sie nicht nur die Steuergesetze ändern, den Zentralismus verbannen, eine gesunde Föderalisierung anstreben und Justizreformen einleiten, sondern auch allen jenen, von der Jugend und den Frauen vor, während und nach dem letzten Wahlkampf vorgebrachten Aspirationen nachkommen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung