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Wiederentdeckung einer Lyrikerin

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Keine Literaturgeschichte der Gegenwart erwähnt diese Lyrikerin, kein gängiges Literaturlexikon kennt ihren Namen, obwohl ihre Gedichtsammlungen, bewundert von Hesse, Thomas Mann, Polgar und selbst von Albert Einstein, in den frühen dreißiger Jahren Auflagen bis zu 100.000 Exemplaren erreichten und nach dem Krieg wieder viele Leser fanden. „In meinen Träumen läutet es Sturm”, als Originalausgabe nun bei „dtv” ediert, enthält „Gedichte und Epigramme aus dem Nachlaß”.

Mascha Kaléko wurde 1907 in Galizien geboren. Ihr Vater war Russe, die Mutter Österreicherin; aufgewachsen aber ist sie in Berlin, wo sie sich so zu Hause fühlte, daß sie trotz erheblicher Gefährdung bis 1938 mit der Auswanderung zögerte. Sie ging dann mit Mann und Kind nach Amerika und übersiedelte 1966 nach Israel. Auf dem Rückweg von einer Vortragsreise nach Deutschland starb sie 1975 in Zürich. Der neu vorliegende Band enthält, was nicht in die acht früheren Sammlungen eingegangen ist, und hat sprachkünstlerisch mehr Gewicht als das, womit manche andere Lyriker inzwischen prominent geworden sind. Rhetorisch virtuos, in meist gereimten, geistreich pointierten Versen, balancierte sie stets ohne Zynismus mit schmerzlichem Humor zwischen Sentiment und Skepsis. Ihr literarisches Quartier war das legendäre Romanische Café in Berlin, und sie wurde gern mit Kästner und Tucholsky verglichen. Ihre ersten Gedichte, 1930 in der Vossischen Zeitung, erregten sofort Aufsehen und wurden zwei Jahre später als „Das lyrische Stenogrammheft” in Buchform zusammengefaßt. Es folgten „Kleines Lesebuch für Große” (1934) und nach langer Zwangspause „Verse für Zeitgenossen “ (1945), „Der Papagei, die Mamagei und andere komische Tiere” (1961), „Verse in Dur und Moll” (1967), „Das himmelblaue Poesiealbum” (1968), „Wie’s auf dem Mond zugeht” (1971) und posthum „Der Gott der kleinen Webefehler” (1977). Der literarische Nachlaß, auf den sie die designierte Herausgeberin Gisela Zoch-Westphal noch aufmerksam gemacht hatte, fand sich, exakt geordnet, in ihrer Wohnung in Jerusalem, wo sie als unentwegt deutsch Schreibende - wie vor ihr schon Else Lasker-Schüler - total isoliert gelebt hatte.

Neue Sachlichkeit: Dieses vor einem halben Jahrhundert aufgenommene Stichwort ist fällig, wenn von Mascha Kaleko die Rede ist, wiewohl es ihr nicht ganz gerecht wird; ihre Gedichte waren um eine spürbare Nuance noch „neuer”. Und der ergreifende Nachlaßband verrät endlich, was längst zu erraten gewesen wäre: Sie hatte mehr zu sagen, als sie für gewöhnlich zugab.

Mein schönstes Gedicht?

Ich schrieb es nicht.

Aus tiefsten Tiefen stieg es.

Ich schwieg es.

Kurzum; da ist es, dieses „schönste Gedicht”, verschwiegen eingestanden, ein Meisterstück aus 15 Worten, das in seiner brillanten Sparsamkeit den Reichtum deutscher Lyrik vermehrt.

Ob Jud, ob Christ: es gibt nur einen Gott.

Doch sucht der Mensch ihn unter vielen Namen.

Stehn wir vor IHM, so fragt ER nicht danach,

Auf welchem Pilgerweg wir zu ihm kamen.

Im epigrammatischen Kurzgedicht war ihre Meisterschaft kaum zu übertreffen.

IN MEINEN TRÄ UMEN LÄ UTET ES STURM. Von Mascha Kalöko. Deutscher Taschenbuch Verlag dtv, München 1977, 159 Seiten, öS 44,70.

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