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Wiedergeburt einer Gesinnung?

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Selten hört man die Wiener noch singen, fast scheint es, als hätten sie ihre Lieder vergessen. Doch jetzt tut sich etwas in Wien: Ein Kreis von Freunden der wienerischen Kunst hat sich vorgenommen, den Wienern die Musik, deretwillen sie einst gerühmt wurden, wieder ins Gedächtnis zu rufen.

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Selten hört man die Wiener noch singen, fast scheint es, als hätten sie ihre Lieder vergessen. Doch jetzt tut sich etwas in Wien: Ein Kreis von Freunden der wienerischen Kunst hat sich vorgenommen, den Wienern die Musik, deretwillen sie einst gerühmt wurden, wieder ins Gedächtnis zu rufen.

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Das, was heute beim Heurigen gesungen wird, hat nur mehr entfernt mit dem echten Wiener Lied zu tun. Massenbetrieb und ein unbedarftes Publikum zeichnen dort für den Einzug zweit- und drittrangiger Musikproduktionen verantwortlich. Das Repertoire wird zunehmend mit Titeln wie „Schenkt man sich Rosen in Tirol“ bestritten, oder die Musikanten geben zehnmal hintereinander „Stellt's meine Roß in Stall“.

Wien aber ist nicht nur die Hauptstadt der großen klassischen Musik, sie war auch die Stadt einer unglaublich vielfältigen Volksmusik, die vom naiven Lied bis zu sehr kunstvoll-raffinierten Instrumentalformen reichte. Keine andere Stadt hat je so eine differenzierte volkstümliche, und dabei doch unverkennbar Urbane Volkskulturmusik hervorgebracht; sie war es auch, welche den Humus für die Wiener Klassik gebildet hat.

Diese Volksmusik ist leider im Laufe der letzten Jahrzehnte, durch die Uberlagerung von allerlei Operetten- und sonstigem Kitsch in eine Art Underground abgerutscht. Und stimmt es nicht bedenklich, daß das originäre Wiener Lied nirgendwo im österreichischen Rundfunk, weder im Regionalprogramm noch im Mu-sik-um-die-Uhr-Sender, einen echten Stammplatz hat?

Trotzdem: Die Alten Lieder und Alten Tanz' leben nach wie vor. Heute treten jene Musikanten, welche die echte und unverfälschte Musik hochhalten, in wenigen Vorortewirtshäusern auf, die nur die Eingeweihten kennen, in Ottakring, im Liebhartstal oder am Schafberg. Sie nennen sich nach alter Tradition „Natursänger“, weniger, um sich von akademisch ausgebildeten zu unterscheiden, als um anzudeuten, daß ihnen das Singen von der Natur in die Wiege gelegt worden ist. Ebenso nachdrücklich wollen sie sich von den Berufssängern unterschieden wissen, weil Singen und Musizieren ihnen mehr als Beruf, nämlich Berufung bedeutet. Um diesen wieder ein engagiertes Publikum zuzuführen, initiierten ein Mäzen und der „Club Wien“ eine „Aktion Frühschoppen“ im besonderen. Seit Anfang Februar finden solche Frühschoppen - übrigens auch eine Tradition, die der Städter beinahe vergessen hat-jeden Sonntagvormittag in einem anderen Wiener Beisel statt.

Die beteiligten Musikanten sind ausschließlich Nachfahren einiger weniger Sängerdynastien. Diese Familien beherrschten einst um die Jahrhundertwende die Volksliedszene unserer Stadt. Das Repertoire der Musikanten umfaßt vielfach Tausende von Liedern, Melodien und Tänzen, die bisweilen in das achtzehnte, manchmal sogar in das siebzehnte Jahrhundert zurückreichen.

Die Lieder umfassen einen großen Sprach- und Melodienschatz. Als relativ bekannt dürfen die gesellig-lustigen, frühmorgendliche Seligkeit evozierenden Weisen mit ihren Wien-, Wein-, Fiaker- und Fuhr-leut'-Motiven vorausgesetzt werden. Aber unter diesen ragen etliche heraus, die ihren ganz eigenen Stil und Witz besitzen, wie zum Beispiel der „Alte Drahrer“, der beinahe einem höheren Schicksal gehorchend, überall, wo er hinkommt, Stimmung und gute Laune entfachen muß. Den trug der „Alte Vickerl“ Michalek an einem der letzten Sonntage vor, und es war ein seltsam eindrucksvolles Bild, wie er aufrecht und unbewegter

Haltung im Duett mit dem Karl Lo-sert den Refrain „Weil i an alter Drahrer bin, a so an Aufdrahrer bin“ heruntersang, und dazu das untrennbar zum Lied gehörende Requisit, einen Zylinder, langsam ritualhaft im Takt drehte, und zwischen der Quint des „so an“ und „Aufdrahrer“ mit zwei Fingern den traditionellen scharfen Pfiff produzierte.

Viele Lieder spiegeln das Lokalkolorit des Biedermeiers wider, lassen die Lebendigkeit in den Gassen und in der Nachbarschaft auferstehen, wie die Episode aus dem Leben der „Wäschertonerl vom Himmelpfortgrund“, die ihr „Lebtag“ und besonders dann, wenn sie Anlaß dazu hätte, „kein' Traurigkeit g'spüren“ läßt. Und wenn sie auch deklassiert waren, und schwer trugen an einem Leben voller Arbeit und Mühe, und die Tonerl „vor lauter Waschen und Be-geln und Trickern“ geglaubt hat, ihre Finger zu verlieren, so klingt doch in den Liedern Ausgelassenheit, ein Maß an Lebensbewältigung durch, die heute ihresgleichen suchen.

Und weil ja der Auftritt schon bezahlt ist, sollte man meinen, daß der Gast sich ein Lied bestellen darf; aber so einfach wie beim Heurigen ist es hier eben nicht. Da bedeutet es schon etwas, wenn der „alte Losert“ einem die Hand auf die Schulter legt und einem die Gnad' erweist. Hier haben wir es ausschließlich mit Künstlerpersönlichkeiten und Meistern ihres Faches zu tun. Und wenn einer der Herren ein Lied singt, dann mitunter authentisch und mit besonderem Recht, weil er es geerbt hat, in direkter Linie vom Komponisten selber.

Der Losert gilt als Nestor des Wiener Liedes, und ist Doyen überhaupt. Seine Autorität bestimmt den Einsatz, den Takt und den Auftritt. Wenn er vorletzten Sonntag in Margareten dabei war, dann nur deshalb, um der Gusti Hödl, einer Standlerin vom Meidlinger Markt, und dem Viktor Michalek, weil sie das erste Mal miteinander sangen, unter die Arme zu greifen, um dann aber doch selber aufzustehen und anzukündigen: „Ich bin zwar heute außer Programm, aber weil's so schön is', sing ich jetzt mit dem Vickerl den Schottenfelder Marsch“; dann stellt das schon etwas Unerhörtes dar und erntete auch entsprechenden Beifall.

Durchaus die Waage mit der großen Zahl der heiteren Lieder halten die wehmütigen, lyrisch-melancholischen, die in Wien eigentlich von jeher die kunstvollere Ausführung erfuhren. So standen schon dem einen oder anderen die Tränen in den Augen an manchem dieser Sonntagvormittage, als das berühmte Lied vom „ersten Schnee“ gesungen wurde, an den der Komponist erinnert wurde, als er seiner ersten weißen Strähnen im Haar gewahr wurde, der ihn an die verlorene Jugendzeit gemahnte und eine Metapher für alles Vergängliche darstellt; oder wenn beispielsweise das herzzerreißende Schicksal des „Waselbuam“ erzählt wurde, der einsam und verlassen durch die Winternacht irrt, sich so zu den Engerln in den Himmel sehnt, bis ihn der Herrgott schließlich erhört und erlöst; und „man am nächsten Morgen sieht a Hügerl hoch mit Schnee, d'raus a klans Handerl ragt in d' Höh'“.

Und wenn man sich durch die Oberfläche ein bissl hat durchgehört, erfährt man von der Vielseitigkeit des Wieners, der zwischen höchster Seligkeit und tiefster Wehmut balaneiert, und findet das Lied von der „re-schen, feschen, harben und weichen, melodienreichen Wienersprach“ in seiner Wahrheit bestätigt. Freilich, vom Wein und der Weinseligkeit bleibt immer die Rede, da hilft nichts, an die muß man sich gewöhnen, das gehört untrennbar dazu. Schließlich handelt es sich hier um Weinbauernlieder; die Wiener Volksmusik wuchs in den Weinhauerhöfen der Vororte heran.

Nein, es ist schlicht schön, von vertrauten Straßennamen singen zu hören; in menschlicher Lautstärke, ohne Mikrophon und Verstärker, jederzeit einfallen, mitsingen und wetteifern zu können.

In der Reihe der Frühschoppen wird auch der Ottakringer Poldi Dürmayer auftreten; besser bekannt als „Der schönste Mann von Wien“, so heißt auch der Titel seines Leibliedes. Die jüngsten der Gilde sind die vier Neuwirth-Schrammeln; als vielleicht berühmtestes gut das Duo Karl Nagl und Trude Mally. Nagl ist übrigens Besitzer einer bedeutenden Sammlung alter, mechanischer Musikinstrumente und Drehorgeln, und aus reiner Liebhaberei und Anhänglichkeit zu dieser Tradition steht er mitunter am Graben in der Inneren Stadt und dreht an einem seiner Werkel, darf aber nicht verwechselt werden mit anderen verkleideten Werkelmännern, die nur ein Tonband im Kasten laufen haben.

Was könnte mehr verbinden, als das Wiener Lied? Wo noch finden die Leute aus allen Klassen zusammen, und lassen sich von den wenigen übriggebliebenen „Kindern vom Grund“ Identität lehren? Wäre es nicht an der Zeit, daß die Kluft zwischen Klassikkennern und beispielsweise Jazzliebhabern durch das Erdreich des gemeinsamen Erbes, in welchem alle Wurzeln fassen können, wieder angefüllt wird?

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