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Wien am Gebirge

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In früheren Ansichten sieht man im Hintergrund der alten Hauptstadt die Donau schimmern. Die Donau hinterließ ihre Spuren und büdete zahlreiche Stadtränder aus, zuerst am heutigen Franz-Josefs-Kai, hinter der Leopoldstadt und zuletzt — wo? Mit den Flußregulierungen und mit der jüngsten Domestikation der Donau zu einer Art Binnengewässer in zwei endlosen Wasch-

trögen aus Beton hatte sich Wien kostspielig und mühsam von der Donau losgesagt.

Die Behandlung der Donau sagt wohl deutlich genug, daß Wien in Wirklichkeit nie eine Brücke zwischen Ost und West war, da man sich des „völkerverbindenden“ Stromes systematisch entledigte. Die Donau vermittelt der Stadt keinen Glanz mehr, den hat noch Budapest abbekommen, und Wien hat sich an die angrenzenden Hügel zurückgezogen: nach Döbling(I), Salmannsdorf, Sie-vering, Pötzleinsdorf und neuerdings auch auf die Hänge des südlichen Wienerwalds.

Damit hat die Stadt auf die weltoffene, ausblicksreiche Ebene verzichtet. Und wirklich war dieses Abrücken von der Donau mehr als nur ein topographischer Wandel. Wenn es schon gilt, die Hauptstadt einer Alpenrepublik zu sein, muß auch ein dement-sprechendes Lebensgefühl ermittelt werden: die Enge und behäbige Kleinbürgerlichkeit, die Zurückgezogenheit in halbalpine Dörflichkeit, die Abend für Abend für ein Refugium gehalten wird und das ein doppelstöckiger Autobus stört, der nur mehr als Zitat einer Großstadt durch die Heurigengassen manövriert wird.

Die Rückberufung der Wiener in das Hügelland bildete auch den sentimentalen Kitsch aus, dem das Wiener-Lied entstammt, das

Bedürfnis, unter sich zu bleiben und aus gewaschenen Senfgläsern Wein zu trinken.

Dem fanatischen Hang zur Tuchfühlung wurde der Blick ins Weite geopfert. Also wurde Wien auch für die Zuzügler aus Kärnten und Salzburg, Oberösterreich , und Steiermark bewohnbar. Und diese stellen beruhigt fest, Wien ist auch nicht anders als Graz oder Linz.

Wien liegt also am Gebirge wie Brunn oder Mayerling. Der Horizont des Völkermischlings wurde abgeschafft, und deshalb kann man sich ohne schlechtes Gewissen in den Gesinnungen der Kleinstädter baden; die Klein-räumigkeit der Hang-Siedlungen ist nicht viel anders als in Leoben oder Bischofshofen. Spätestens

bei den wenigen „Spezialitäten“-Geschäften kann man erkennen, was passierte: In ihnen ist die Umgangsart gereizter, und der sündteure Pelzmantel kontrastiert zum höllischen Gezänk der übergangenen Direktorsgattin.

Im Grunde hat Wiener Neustadt ein städtischeres Flair als der Graben, da sich dort die Spaziergänger „normaler“ betragen und nichts bis zum Überdruß in ihre Bedeutung investieren müssen.

Also regieren am Graben und in der Kärntnerstraße der Lodenmantel und die grünen Hoiho-Hü-teln. Es ist der Geist von Schlad-ming, der da promeniert, mit genagelten Schuhen und flankiert von Kaufhausketten, die sich von Sofia nur noch im Warenangebot unterscheiden. In den Fußgängerzonen sitzen Wald- und Kräh-winkler und meinen, die Welt müsse so aussehen, wie sie sich diese vorstellen: bigott, eng und bieder.

Am Abend beginnen die Menschen auch zu krakeelen, zu jodeln, wogegen die Mistelbacher Polizei einschreiten muß. Widerwillig markiert man in Wien Europa oder die Weltstadt, im Grunde aber will man von beidem seine Ruhe haben. Die Ruhe gibt es aber nur am Sonntag vormittag in der Innenstadt, wenn der Großteil der Bevölkerung seine Wienerwaldwanderungen (!) macht, und die meisten Menschen streifen durch die stillen Gassen, als wären sie verspätete Besucher eines Katholikentages.

Wien führt einen Verteidigungskampf und wünscht sich in die Position einer Alpenfestung. Die Politik hat schon den Atem von Almluft, und die Gaststätten werden zu Wirkungsstätten der Politik. So sieht es aus: in Wien am Gebirge.

Der Autor ist Dozent für Soziologie an der Universität Wien.

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