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Wien am Neckar

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„Jugend in Wien’, nach einer Autobiographie von Schnitzler, nannten die Marbacher Veranstalter die neue im Schiller- Nationalmuseum ausgebreitete Ausstellung des Literaturarchivs. Sie wird wegen ihres unersetzlichen Wertes — insgesamt 450 Handschriften, Erstdrucke, Originalphotos, Briefe und Bilder aus dem Wien der Jahrhundertwende sind noch bis Ende Oktober dort versammelt — nicht wandern. Man muß also, wie Bernhard Zeller, der Hausherr des Archivs, sagte, „Wien zuliebe an den Neckar’ fahren.

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„Jugend in Wien’, nach einer Autobiographie von Schnitzler, nannten die Marbacher Veranstalter die neue im Schiller- Nationalmuseum ausgebreitete Ausstellung des Literaturarchivs. Sie wird wegen ihres unersetzlichen Wertes — insgesamt 450 Handschriften, Erstdrucke, Originalphotos, Briefe und Bilder aus dem Wien der Jahrhundertwende sind noch bis Ende Oktober dort versammelt — nicht wandern. Man muß also, wie Bernhard Zeller, der Hausherr des Archivs, sagte, „Wien zuliebe an den Neckar’ fahren.

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In diesem nur sporadisch stattfindenden Sommer, der uns mehr Museumstage schenkte, als selbst Ausstellungsveranstaltem lieb sein kann, ist die Marbacher Dokumentation mehr als eine Verlockung, sondern fast eine Verpflichtung. In Wien selbst könnte man eine so komplexe, die künstlerischen Querverbindungen zwischen Literatur, bildender Kunst, Musik, aber auch zu Politik und den Wissenschaften, der Philosophie und Psychologie hin belegende Schau nur schwer nach- bauen, denn rund ein Drittel der Exponate gehört dem Deutschen Literaturarchiv, also ins Haus, die übrigen zwei Drittel sind zusammengeliehen, aus Wien und der Welt.

Von Königgrätz bis Sarajevo, also von 1866 bis 1914 ist der zeitliche Bogen gespannt. Schwerpunkt sind allerdings nicht Schlachtbeschreibungen, auch nicht etwa Rückwirkungen des Weltgeschehens auf die Künste, sondern Manifestationen des Kunstgewissens. Diese Widerspiegelung der Jahrhundertwende fällt zudem in eine Zeit, in der das Verhältnis zum Fin de siėcle, zu Jugenstil und Belle ėpoue ein ekstatisches Endstadium erreicht hat. Die Schinken von 1890, Markarts Malerei beispielsweise, wurden Glanzstücke der Galerien. Selbst die Präraffaeliten gelten als sehenswert. Mit Schiele wurde auch sein Lehrer Klimt rehabilitiert. Das Ornament kam zu Ehren. Und alle Bauhausklarheit ging verloren. Noch immer ist kein Ende dieser Entwicklung abzusehen. Während die leiblichen Großväter in Altersheime abgeschoben werden, sind die geistigen Großväter zu Anregern avanciert. Das ist sonderbar genug und wäre einer Betrachtung wert. Zumindest weckt das Marbacher Thema den Verdacht, hier würde großangelegt einem Trend gehorcht. Als Nostalgiespekulation aber tut man der Unternehmung unrecht. Denn gerade oberflächliche Augenreize hätte man stärker erwarten können. (Jede Jugenstilausstellung leistet da mehr.) Statt dessen wird hier der Versuch gewagt, literarisch zu belegen, was optisch in den letzten Jahren unübersehbar wurde. Denn die Begeisterung blieb ja auf das Bildliche beschränkt. Man hängte sich Heinrich Vogeler an die Wand. Aber weder George noch Rilke, noch Hofmannsthal wurden gelesen.

Nun ist das laufende zugleich ein Jubiläumsjahr. Bekanntlich jähren und jährten sich 1974 die hundertsten Geburtstage von Hugo von Hofmannsthal, von Karl Kraus und von Amold Schönberg. Diese Feiern und

Besinnungsfeste wurden denn auch zum Ausstellungsanlaß. Dennoch sollten nicht einfach Biographien zusammengestellt werden. Den beiden hauptverantwortlichen Veranstaltern, den Leitern der Handschriftenabteilung und der Bibliothek, Werner Volke und Ludwig Grave, war es darum gegangen, das spezielle Kunstklima „Wien um 1900’ widerzuspiegeln. Dichtung und Darstellung. Oper und Schauspiel, Musik und Malerei, Kunst und Kritik, Wissenschaft und leben sollten sichtbar werden. Man beschränkte sich bescheiden und strebte Vollständigkeit bewußt nicht an. Die Auswahl wirft indessen Fragen auf und versucht, durch Originalmaterial Anregungen für Antworten zu geben.

Königgrätz also zum Auftakt. Sarajevo als Schlußpunkt. Das ist auch die Spanne zwischen Grillparzers dramatischem Märchen „Der Traum — ein Leben’ und den „Letzten Tagen der Menschheit’ von Karl Kraus. Dazwischen liegt — in Vitrinen verstaut — das Panorama einer Endzeit, die, wie man in unserer Zeit sehen konnte, wieder zum Ausgangspunkt neuer Entwicklungen wurde.

Die Zeugnisse, Briefe, Aufsätze, Aphorismen, Programme, Photos spiegeln die Zeitzustände. Weltausstellungsglanz und Bankenkrach fallen in das gleiche Jahr. Die Ringstraßenhybris wirkte sich aus. In Wien fällt die Apokalypse, wie gesagt, fröhlich aus. Und stillos geht hier nicht einmal ein Weltreich unter. Barocke Fülle bestimmt noch die Agonie des Kaiserreichs. Im Prater aber dreht sich das Riesenrad. „Laß den Pöbel in den Gassen: Phrasen, Taumel, Lügen, Schreien. Während sie uns Zeit noch lassen, wollen wir uns Schön’rem weihen!’ Das war der Zwiespalt von Traum und Leben, das, was alle sehen konnten und nicht sehen wollten.

Im Cafe Griensteindl tauschte man seine Meinung aus über das „Minimum an ethischen Werten, das durch ein Maximum an ästhetischen Werten überdeckt werden sollte’, wie Broch in dem bereits erwähnten Essay schrieb. Im Griensteindl trafen sich Bahr und Schnitzler, Beer-Hofmann und Felix Salten. Dort gingen auch Viktor Adler und Rudolf Steiner ein und aus. Nur Peter Altenberg residierte im Cafe Central, seiner offiziellen Adresse sogar in Kürschners Literaturkalender. Eines Tages mischte sich ein Jüngling unter die Literaten. Er fiel allen sofort auf. Und Bahr notierte: „Bedeutendes Talent, ein siebzehnjähriger Junge, Loris. Wissen, Klarheit und, wie es scheint, auch echte Künstlerschaft, es ist unerhört in dem Alter.’ Es war, wie man weiß, Hofmannsthal. Stefan George sprach den jungen Loris im Cafe Grien - steindl an. Der intensive Austausch begann. Und der Augang war auch schon abzusehen.

Das war es ja gerade, was diese Zeit auszeichnete. Diskrepanzen lagen dicht beieinander, Unvereinbares zog sich an. Fetisch Jugend, Tabu Tod. Untergangseuphorie, literarisch, musikalisch, bildlich beschworen. Daß die Glasschränke diese Grenzelosigkeit bergen, durch geschickte Auswahl andeuten, was wichtig war für das Wien von damäls: daß nicht riür ein

Stimmungsbild entsteht, sondern so etwas wie ein Spiegelbild, ein konzentriertes, kondensiertes Wirklichkeitsbild, das, wie gesagt, war nicht zu erwarten gewesen. Und weil die Vitrinen das Wien der Jahrhunderwende fassen, darum gilt, was der Veranstalter feststellte: Wien zuliebe muß man nach Marbach fahren. (Öffnungszeiten: bis 31. Oktober, täglich von 9 bis 17 Uhr.)

PS der Redaktion: Wer nicht nach Marbach fahren kann, möge damit getröstet sein, daß es einen ganz ausgezeichneten illustrierten Katalog dieser Ausstellung gibt, der von Dr. Ludwig Greve und Dr. Werner Volks erarbeitet wurde. Die 445 Seiten umfassenden Textstellen, Beschreibungen und Kommentare, die unter Mitarbeit der Damen Gertschat, Kramer, Fehl und Salchow zusammengetragen wurden, sind in einem mehr als 20 Druckspalten umfassenden Namensregister aufge- schlüsselt. Da findet man die interessantesten und ausgefallensten Texte. Wer kennt schon den Brief, den Marie von Ebner-Eschenbach am 4. Dezember 1899 an Josef Breuer, den um vieles älteren Mitarbeiter und Freund von Sigmund Freud schrieb? Nachdem sie sich entschieden für den rassisch verfolgten, eingesperrten und nachher wieder freigelassenen Major Dreyfus ausgesprochen hat, beschließt sie ihren Brief aus Rom mit den Worten: „Die ,Neue Freie Presse’ lasse ich mir schicken und lese sie regelmäßig, bis mir übel wird, dann trage ich sie ans andere Ende des Zimmers. Wäre ich in Wien, ich würde nur noch in jüdischen Geschäften kaufen, den Aufpasser vorher noch recht aufmerksam auf mich machen…Die Verwilderung und Verdummung, die jetzt herrschen, sind notwendig. Die Menschen müssen zu dem Weltkrieg, der bevorsteht, präpariert werden. Zu dem gegenseitigen Auffressen schärft man sich jetzt die Zähne.’ Solche Dinge gibt es viele in dem schön gedruckten Katalog, der über den Kösel-Verlag KG, München, zu beziehen ist. Solange der Vorrat reicht. F.

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