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Wien wird Literaturstadt

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Ten Geburtstag und kann dabei auf eine Leistung zurückblicken, wie sie viele andere Institutionen nach 50 Jahren nicht aufzuweisen haben. Unter der Leitung von Dr. Wolfgang Kraus und unter der Patronanz des Unterrichtsministeriums wollte man fürs erste „der Literatur in Wien eine Adresse geben, ein Forum der Projekte, der Kritik, der Aktivität schnell wurde sie zu einer Kontakt- und Informationszentrale für alle literarisch Interessierten des In- und Auslandes und darüber hinaus ein Katalysator zwischen Ost und West.

Nach außen hin sind die Lesungen und Vorträge von Autoren, Kritikern und Literaturwissenschaftlern die augenfälligsten Leistungen. Doch das ist nur ein Teilaspekt aus der vielfältigen Arbeit des Sekretariates im Palais Wilczek, das sozusagen zum Fixpunkt für jeden wurde, der in Wien etwas über Literatur erfahren möchte. Von hier aus kommen Gespräche in Gang, werden Kontakte geknüpft und Literaten umsorgt. Jeder, der sich interessiert, ist zur Mitarbeit willkommen. Es gibt keine feste Mitgliedschaft, niemand wird aufgenommen, aber es kann auch niemand ausgeschlossen werden, wenn sich eigene Gruppen bilden wollen.

Schon nach einjähriger Arbeit versuchte man, mit dem „Forum der Jugend“ aufgeschlossenen jungen Menschen einen lebendigen Kontakt mit der Gegenwartsliteratur unseres Landes zu vermitteln. In diesem Rahmen werden Werke zeitgenössischer Autoren nach den Zusammenhängen der literarischen Tradition Österreichs analysiert und alle vierzehn Tage stehen namhafte Autoren zur Verfügung, um aus ihren Werken zu lesen.

Diskussionen über Premieren machen das Publikum mit den jeweiligen Autoren und Regisseuren bekannt; Hochhuth, Hochwälder, Ionesco und andere erschienen persönlich. Im Laufe der Zeit konnte auch eine stattliche Reihe von Bndi-neuerscheinungen österreichischer Autoren der Presse und dem Publikum vorgestellt werden.

Im ersten Jahr schon konnten Cerha, Habeck und Zand zu einer Forumsdiskussion gewonnen werden: Zusanek, Manes Sperber, W. H. Auden und Urzidil lasen erstmals in Österreich aus ihren Werken. Im März 1963 kam Tibor Dery zum erstenmal nach seiner Inhaftierung in der ungarischen Revolution 1956 ins Ausland und stellte sich mit seiner letzten Novelle in der Literaturgesellschaft vor. Im gleichen Jahr trafen völlig unangesagt 18 junge Schriftsteller aus der Sowjetunion in Wien ein, um sich hier mit dem österreichischen wie mit dem gesamtdeutschen Schrifttum vertraut zu machen. Es war das erste Mal, daß Sowjetschriftsteller mit authentischen Repräsentanten unserer Literatur ins Gespräch kommen wollten.

In relativ kurzer Zeit stellte sich heraus, daß in dieser Literaturgesellschaft die in unserer Zeit so hochgespielten Gegensätze von Rechts und Links, von jung und alt ihre Schärfe verlieren und trennende Gräben durch aufrichtige und versöhnliche Gespräche überbrückt werden können.

Das Jahr 1963 brachte einige große österreichische Autoren, die im Ausland leben, zu Vorlesungen nach Wien. Hochwälder und Canetti lasen hier erstmals; Prof. Hacker und W. H. Sokel kamen aus den USA; zu einer Forumsdiskussion konnten Th. W. Adorno, A. Gehlen, M. Kustow, Robert Neumann. R. Jungk und andere gewonnen werden, und von da ab kamen alle wieder.

Ein großer Erfolg wurde der Aufsatzwettbewerb, der durch das „Forum der Jugend“ für 14- bis 18jäh-rige über ihre Lieblingsliteratur und -autoren durchgeführt wurde. Im Jahre 1964 erblickte dann die erste Buchpublikation, eine „Anthologie junger österreichischer Lyriker“, das Licht der Welt. Mit viel Mühe gelang es der Gesellschaft, an junge österreichische Schriftsteller Stipendien zu vermitteln und stellte aus diesem Anlaß T. Bernhard, Oko-penko und andere durch Dichterlesungen der Öffentlichkeit vor.

Kommen ausländische Literaten nach Wien, die Kontakte zu österreichischen Autoren oder Verlagen suchen, wird ad hoc in den Räumen des Palais Wilczek eine „literarische Jause“ organisiert, bei der sich die interessierten Leute ganz leger auf gesellschaftlicher Basis kennen lernen können.

In den Jahren 1965 und 1967 konnten bereits drei internationale Kongresse über aktuelle literarische Themen abgehalten werden.

Aus den verschiedensten Welt-und Geistesrichtungen kommen die Prominenten der Literatur nach Wien, und die meisten sprechen auf Veranstaltungen der Literaturgesellschaft wie etwa H. M. Enzensberger, Dedecius aus Polen, Hajek und Mnacko aus der CSSR, Reich-Ranicki und Urzidil. Goldstücker begeistert seine Hörer ebenso auf Wiener Boden wie Prof. Wetter aus Rom. Max Brod kam nach Wien, doch selbst der Redoutensaal konnte das interessierte Publikum nicht fassen. Der Saal mußte gesperrt werden, und es kam draußen auf dem Josefsplatz zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Literaturfreunden.

Neben den in Österreich beheimateten Autoren und Wissenschaftlern wie Csokor, Aichinger, Artmann, Bauer, Bachmann, Drach, Fussen-egger, Frischmuth, Gütersloh und Ingrisch lasen im Laufe der Jahre auch Andersch, Frisch, Havel, Hildesheimer, Kesten, Koestler, Loetscher, Gabriel Marcel, Scharper, Dumitriu und andere. E. Wahl sprach über schwedische Literatur, Bondy aus Frankreich ist ebenso gern zu Vorträgen bereit wie Politzer aus den USA, Jens aus Tübingen, De-metz von der Yale University, Esslin aus London oder Wiener Fachleute. (Von den Autoren, Kritikern und Literaturwissenschaftlern konnten jeweils nur einige Persönlichkeiten herausgegriffen werden. Aus Platzmangel wurde daher nur ein Teil der Vortragenden namentlich genannt.) Im laufenden Jahr wird L. Löwenthal über Psychoanalyse und Trivialliteratur sprechen. P. Chiarini, ein führender Germanist aus Rom, hat Die österreichische Literaturgesellschaft feierte ihren zehn- ebenso zugesagt wie L. Kolakowski aus Polen, und im Herbst will der Russe Pjotr Rawicz über Solsche-nizyn sprechen.

Alle diese Veranstaltungen werden bloß durch Einladungen angekün-

Dr. Kraus). Sehr digt Ein plakat mit dem Monatsprogramm wäre für Dr. Kraus schon eine Errungenschaft! „Das Budget müßte es erlauben, etwa den großen Konzerthaussaal zu mieten. Ihn zu füllen, wäre kein Problem, wenn wir nur einmal in großem Stil werben könnten!“

Ein Traumziel wäre jährlich ein großer internationaler Kongreß in Wien über ein literarisches Thema, zu dem Ost und West geladen werden. Wohl würde die Durchführung eines solchen Kongresses etwa 150.000 Schilling kosten, er hätte jedoch ein weltweites Echo zur Folge, und Wien würde weit mehr als bisher auch als Literaturzentrum angesehen werden.

Sehr am Herzen läge Dr. Kraus eine bessere Koordination sämtlicher kultureller Institutionen. Viel Leerlauf und Doppelgleisigkeit könnten mit einigem guten Willen vermieden werden. Sehr wichtig wäre auch eine Erweiterung der Literaturzeitschrift „Literatur und Kritik“, um der Jugend mehr Raum zur Verfügung stellen zu können. In nächster Zeit sollen H. Schneider und G. Roth aus Graz in „Profile der Jugend“ vorgestellt werden. Dr. Kraus möchte den jungen Leuten eine Chance geben. Es gibt viele Talente, die eine Ermutigung brauchen, da sie in irgendwelche Modeströmungen nicht eingeordnet werden können. Auch hofft er, die drei Wohnungen, die man für Stipendiaten und prominente ausländische Gäste zur Verfügung hat, eines Tages auf zehn aufstocken zu können.

Wie früher die Talente aus den verschiedenen Ländern der Monarchie gekommen sind, so gäbe es heute einige in den Bundesländern zu fördern. Das nächste Ziel ist es, diese Kontakte zu intensivieren und Vortragstourneen durch ganz Österreich zu schicken.

Seit je hatte die Wiener Literatur ihr eigenes Gesicht, ihr Einfluß erreicht heute wieder alle Nachbarländer. Elias Canetti meint, daß Italien Wien als die Geburtsstätte des modernen Romans ansieht und auch Autoren einbezieht, die gar nicht deutsch schreiben. Die Literaturgesellschaft hat es durch ihren Einsatz möglich gemacht, daß sie für gar manchen Schriftsteller nicht nur Durchgangsstation, sondern Ausgangspunkt wurde. Wien ist somit auf dem besten Weg, Zentrum des literarischen Lebens in Österreich 1 und ganz Mitteleuropa zu werden. Aus dem hiesigen Kulturleben ist die Literaturgesellschaft einfach nicht mehr wegzudenken. Über die politischen Grenzen hinweg ist sie wahrhaft Mittler zwischen Ost und West geworden.

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