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Wiener Bittstellerei

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Die erste große Entscheidung ist gegen Leopold Gratz, Bürgermeister von Wien und stellvertretender Vorsitzender der SPÖ, gefallen: Wenn auch nicht allseits freundlich begrüßt, so hat die Partei doch zur Kenntnis genommen, daß sich Bruno Kreisky seinen Finanzminister als Nachfolger Vizekanzler Häusers wünscht. Auch die Freunde von Leopold Gratz in der Bundesregierung, im ÖGB, an der Parteispitze und in den Ländern konnten sich nicht den Argumenten der Gratz-Kritiker verschließen, daß der Wiener Bürgermeister nach bald dreißigmonatiger Tätigkeit im Rathaus noch immer keine spektakulären Entscheidungen getroffen hat, den Verwaltungsapparat offenbar nicht völlig beherrscht und an der verkrusteten Struktur der Wiener SPÖ so gut wie überhaupt nichts geändert hat.

In den letzten zwei Jahren hat Leopold Gratz keine Gelegenheit ausgelassen, um vor allem in den Ländern für sich Stimmung zu machen. Das gelang ihm so lange, als er an die Wiener Probleme kaum rührte, mit Forderungen an den Bund sehr zurückhaltend blieb und im übrigen die Dinge treiben ließ. Leopold Gratz, durchaus karrierebewußt, ging so weit, Untätigkeit als persönlichen politischen Stil zu entwickeln. Auch die Rezession unterbrach die Absenzphase im Karriereplan von Gratz nicht: Der Stadthaushalt geriet in die roten Zahlen (1976 soll das Wiener Budgetdefizit rund zwei Milliarden Schilling betragen), Leopold Gratz mußte sich mit Wünschen und Forderungen an den Bund wenden. Von seinem Rivalen Hannes Androsch heißt es in diesem Zusammenhang, er habe die Wiener Bittsteller immer recht lange warten lassen, Termine immer wieder verschoben und sogar Vertretern der Opposition den Vorzug gegeben. Im Fernsehen trug der Bund mit Wien einen offenen Krieg aus: Vizebürgermeister Gertrude Sandner-Fröhlich erklärte, daß der Bund nicht mehr seinen Finanzierungsverpflichtungen für die Wiener Symphoniker nachkomme, Unterrichtsminister Sinowatz konterte mit dem Argument, daß eben auch dafür kein Geld vorhanden sei. Offene Auseinandersetzungen dieser und schwerwiegenderer Art wurden immer häufiger registriert.

Je intensiver sich Leopold Gratz beim Bund für Wiener Probleme einsetzte, desto mehr Freunde und Sympathisanten verlor er in den Landesorganisationen seiner Partei. Die Wiener SPÖ und ihr Parteiobmann mußten spätestens seit 1975 das Schicksal der Wiener ÖVP (vor allem in der Zeit von 1966 bis 1970) erleiden. Auf die Wiener SPÖ entlud sich der Zorn zu kurz gekommener Landesorganisationen, sie mußte — meist stellvertretend — für manche Sünden der Bundesregierung büßen. Das besondere Pech des Leopold Gratz besteht demnach darin, daß er in der Bundespartei ins Abseits geriet, sobald er aus seiner Untätigkeit zu erwachen begann. Während beispielsweise alle sozialistischen Landesorganisationen fordern, daß auf Grund einer Volkszählung besonderer Art der Finanzausgleich neu geregelt werde, kämpft Leopold Gratz einsam und — wahrscheinlich erfolglos — dagegen an. Die Länder mit steigender Einwohnerzahl versprechen sich höhere Zuschüsse, das absterbende Wien müßte neuerlich eine große Einbuße hinnehmen.

Zuletzt schlug Bruno Kreisky aus dieser allgemeinen Stimmung in der SPÖ gegen Wien und Gratz Kapital, indem er seinen Lieblingsschüler Hannes Androsch als Vizekanzler vorschlug. In den Ländern war eine neue Androsch-Front entstanden, die Gratz-Front dagegen brüchig geworden.

Offiziell heißt es in der SPÖ, daß mit einer Bestellung von Hannes Androsch zum Vizekanzler noch lange keine Entscheidung für die Nachfolge Bruno Kreiskys als Kanzler und als Parteivorsitzender gefallen sei. Noch immer kann man sich vorstellen, was im übrigen sowohl Bruno Kreisky als auch Hannes Androsch für sich selbst ablehnen, eine Zweiteilung der Aufgaben nämlich: Leopold Gratz als Parteiobmann und Hannes Androsch als Kanzlerkandidat. Eine Realisierung dieser Vorstellung ist aber eher unwahrscheinlich.

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