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Wiener Herz - was hast du gelernt?

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Man kann nicht behaupten, daß der Film „Requiem für 500.000“ und die ihm folgende Diskussion, beides am Vorabend jenes Tages, an dem sich der Ausbruch des Warschauer Ghettoaufstandes zum dreißigsten Male jährte, im österreichischen Fernsehvolk besonderen Widerhall gefunden hätte. Während die Auguren im Fernsehen darüber diskutierten, ob der Ghettoaufstand noch Bezug zur Gegenwart habe oder rettungslos Geschichte geworden sei, riefen zwar immerhin 210 Menschen

den ORF an, wobei die negativen Stellungnahmen die positiven weit überwogen.

Zieht man all die nicht zitierbaren Beschimpfungen aus übervollem, erbostem, goldenem Wiener Herzen ab, so blieb der vielstimmige Chor

derer, die da meinten, das alles sei zu lange her, man möge sie damit verschonen. Ein Argument, das niemals dann laut wird, wenn Dinge erörtert werden, die noch länger her, nämlich zweifellos historisch sind, etwa Maria Theresia oder der Dreißigjährige Krieg.

Der Widerspruch ist aber nur scheinbar: Geschichte kann nur werden, was einmal Gegenwart war, und gegenwärtiges, erlebtes Geschehen war für einen großen Teil der Bevölkerung in dieser Stadt, in Wien,

der Warschauer Ghettoaufstand niemals. Nicht, als sie die Aufnahmen davon in der deutschen Wochenschau sahen, nicht, als sie nach dem Krieg Näheres erfuhren. „All diese Dinge“, der Ghettoaufstand ebenso wie Auschwitz, das Schicksal des eines

Tages plötzlich „in den Osten“ deportierten Wiener Nachbarn wie das der Millionen Ostjuden, wurde von Millionen Deutschen und Österreichern, und besonders in Wien, in zwei Phasen „verarbeitet“: „All das Schreckliche“, das „in jenen dunklen Jahren“ geschah (der seelische Abwehrmechanismus entfaltet hier sprachschöpferische Kraft) wurde zunächst verdrängt, von sich gewiesen, die Beschäftigung damit wurde so lange mit dem Argument, es sei zu früh dafür, abgelehnt, bis man

sagen konnte, das alles sei „zu lange her“.

In einem bestimmten Sinn sind heute Ereignisse wie der Ghettoaufstand oder wie Auschwitz gerade deshalb von einer so düsteren, beklemmenden Gegenwärtigkeit, weil

sie nicht Geschichte werden konnten, so wie manche Tote im alten Volksglauben nicht zur Ruhe fanden. Die nahezu totale Weigerung einer Generation von Zeitgenossen, sich dem Geschehenen auszusetzen, begründet ihre Aktualität: Die Aufständischen von Warschau starben zwar vor 30 Jahren, und die Krematorien von Auschwitz verloschen vor 28 Jahren, aber die Telephonanrufe jener, die sich von einem Film namens „Requiem für 500.000“ provoziert fühlen, telephonisch Unflätigkeiten von sich zu geben, ist ein außerordentlich aktuelles Ereignis des Jahres 1973, und die Tatsache, daß diese Anrufer sagen, was Hunderttausende denken, gibt ihnen Bedeutung. Die in so vielen Fällen mühsam hinter Desinteresse verborgene Feindseligkeit gegenüber jenen, die an den Ghettoaufstand erinnern, gibt Aufschluß über den Menschen von 1973. Das ist Gegenwart.

Geschichte ist das Ereignis vqn Warschau — der erste nationale jüdische Aufstand seit Bar Kochba, nach fast 2000 Jahren. Geschichte ist Himmler, der kurz vor dem Ghettoaufstand auf Liquidierung derer drängte, die noch dort lebten, Geschichte ist die düstere Gestalt eines Jürgen Stroop, des Ghetto-Liquidierers, der seinen Bericht „Der jüdische Wohnbezirk von Warschau existiert nicht mehr“ in Leder binden und an Hitler senden ließ, Geschichte ist die Gleichgültigkeit vieler Zeitgenossen von damals, die heute tot sind, Geschichte ist das Heldentum der tausend Kämpfer von Warschau, die wußten, was sie erwartete, und das passive Ermordetwerden gegen

einen Tod in verzweifelter Gegenwehr tauschten.

Gegenwart ist die „Unfähigkeit zu trauern“ (Mitscherlich), Gegenwart ist der Antisemitismus über den Tod

von Millionen Juden hinaus, Gegenwart ist die Unfähigkeit, zu lernen, die aus dem Nichtlernenwollen resultiert, Gegenwart ist die Unmenschlichkeit hinter der Maske des Wohlstandsbürgers. Gegenwart ist der kleine Mann, dem alles recht ist, solange man ihn nicht damit belastet, und Gegenwart ist Jürgen Stroop, der Schlächter, als eine nach wie vor in Millionen Menschen angelegte Möglichkeit.

Gegenwart ist die Solidarisierung in der Bestialität, etwa das unangefochtene Leben eines ehemaligen Warschauer Ghettokommandanten in Düsseldorf, dessen Entdeckung jetzt allenfalls bedauerndes Achselzucken auslöst: Der Arme, nun haben sie ihn doch erwischt.

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