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Wilder Westen in Grado

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Grado, die „Sonneninsel“ genannt, ist die wohl rührigste Touristenmetropole der italienischen Adria; die Anschriften sind in erster Linie deutsch, dann etwas kleiner darunter italienisch, französisch und englisch gehalten — deutsch scheint die offizielle Verständigungssprache des von nur 6000 Einwohnern (gegenüber 40.000 Touristen in der Hochsaison) frequentierten Halbinselstädtchens zu sein. Die Geschäfte — hauptsächlich Souvenirläden — sind täglich, selbst Samstag und Sonntag, von neun Ųhr früh fast bis Mitternacht geöffnet, Platzkonzerte, Ausflüge, vom eifrigen Touristenbüro organisiert (hauptsächlich in das benachbarte Aquileia, doch auch bis Triest), Veranstaltungen und Kongresse aller Art sorgen für die Unterhaltung und Zerstreuung des wie Ameisen wimmelnden Badepublikums.

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Grado, die „Sonneninsel“ genannt, ist die wohl rührigste Touristenmetropole der italienischen Adria; die Anschriften sind in erster Linie deutsch, dann etwas kleiner darunter italienisch, französisch und englisch gehalten — deutsch scheint die offizielle Verständigungssprache des von nur 6000 Einwohnern (gegenüber 40.000 Touristen in der Hochsaison) frequentierten Halbinselstädtchens zu sein. Die Geschäfte — hauptsächlich Souvenirläden — sind täglich, selbst Samstag und Sonntag, von neun Ųhr früh fast bis Mitternacht geöffnet, Platzkonzerte, Ausflüge, vom eifrigen Touristenbüro organisiert (hauptsächlich in das benachbarte Aquileia, doch auch bis Triest), Veranstaltungen und Kongresse aller Art sorgen für die Unterhaltung und Zerstreuung des wie Ameisen wimmelnden Badepublikums.

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Sogar die wunderschöne historische Altstadt scheint ein für die Touristen gebautes Potemkinsčhes Dorf zu sein, selbst in der winzigen, in einem uralten Haus eingebauten Pizzeria „Caina“ spricht der athletisch-südländische junge Padrone ein perfektes Touristendeutsch. „Eingeborene“ trifft man in den Lokalen höchstens nach Mitternacht, wo sie — ungestört von den Fremden, die sich brav schon in ihre Hotels und Privatquartiere zum Schlaf zurückgezogen haben — fast eine verschwörerisch-italienische Heiterkeit entfalten. Wer Italien sucht, sollte nicht nach Grado fahren — oder erst zu nächtlicher Stunde die Schönheiten der alten Adria-Festung entdecken…

Doch Grado bietet noch mehr als nur Sonne und einen wunderschönen Sandstrand. Zurückgehend auf Pier- Paolo Pasolini, der eine der kleinen Inseln um Grado als Refugium gekauft hat und sozusagen Heimatrecht besitzt, findet hier alljährlich am Ende der Stagione eine „Internationale Filmwoche“ statt, die — zunächst als Gegenfestival zu Venedig 1968 geplant — sich nunmehr zu einer filmhistorischen Studienwoche entwickelt hat. Unterstützt von dem ebenfalls noch sehr jungen und daher allen modernen Ideen aufgeschlossenen Bürgermeister (der selbst ein begeisterter Cinėast war und ist) Nicolö Reverdito — der bei fast allen Vorführungen im Cinema Cristallo anzutreffen ist — treffen sich nun alljährlich im späten September ein paar Dutzend ausländische und italienische Filmjoumalisten in der schon leer und etwas melancholisch werdenden Touristenkolchose, um der langsam in den Winterschlaf sinkenden Lagunenstadt noch ein wenig internationalen Glanz zu verleihen.

War im Vorjahr, bei der ersten Veranstaltung, der italienische Stummfilm in seinen Anfängen das Thema der acht Tage währenden

Filmwoche, so konnten heuer die anwesenden 67 Journalisten und 21 Gäste eine faszinierende Übersicht über die Entwicklungsgeschichte des stummen amerikanischen Western unter dem Motto „West Epopea o mito?“ (Der Westen — Realität oder Mythos? — was auch schon Titel eines Kapitels in Rieupeyrouts Buch über den Western ist) miterleben. Wenn auch dem Fachmann erinnerlich ist, genau dieselbe, nein, eine noch erweiterte und sinnvollere, weil chronologisch geordnete Übersicht im Rahmen einer Retrospektive bereits anläßlich der 28. Filmkunstausstellung in Venedig 1967 („Western: le origini“) gesehen zu haben, die aber infolge des stets in Venedig zu absolvierenden Riesenprogrammes kaum richtig „genossen“ werden konnte, ändert dies doch nichts an der Bedeutung dieser hinreißenden und filmhistorisch eminent wichtigen Veranstaltung.

Wenn es überhaupt eine Kritik gibt, dann die einzige, daß man ein so kostbares Material — die Veranstalter brachten mehr als 100 Filme (selbstverständlich waren auch zahlreiche Kurzfilme darunter, da die Werke der frühesten Stummfllmzeit größtenteils aus Ein- bis Zweiaktern bestanden) zusammen — nicht in wirrem Durcheinander, sondern in chronologischer Reihung oder zumindest sonstiger logischer Ordnung (vielleicht nach Entwicklung bestimmter Schauspieler, Regisseure usw.) und mit einer kurzen fachlichen, die Bedeutung erklärenden Einleitung präsentieren sollte. Manche der anwesenden, vornehmlich jüngeren Journalisten, historisch ungeschult, saßen verwirrt vor dieser ungeordneten Überfülle an Material und wußten nur wenig in irgendeinen logischen Zusammenhang zu bringen.

Was eine derartige Veranstaltung in erster Linie lehrt: erstens die Erkenntnis, sich keineswegs auf film- historische Bücher zu verlassen (die wenigsten Autoren kennen alle ihre beschriebenen opera im Original, sondern übernehmen Urteile und Meinungen aus zumeist obskuren Quellen, wodurch sich nicht nur Fehler und Irrtümer, sondern auch völlig falsche Beurteilungen einwurzeln und für alle Zeiten bestehen bleiben), und zweitens die überraschende Feststellung, wie zeitlos manche dieser fast 60 Jahre alten Filme sind, wie modern viele von ihnen heute noch (oder gerade heute wieder) wirken und daß alles, auch in der Kinematographie, schon einmal dagewesen ist! Wie wegweisend war doch zum Beispiel Thomas Harper Inces „Custer’s Last Fight“ aus dem Jahre 1912 in seiner Gestaltung der Massenszenen und seinem Versuch einer dokumentarischen Stil- flndung vom Leben und Brauchtum der Indianer! (Daß die Figur General Custers selbst im Läufe der letzten Zeit entheroisiert wurde, heute in anderem Licht als vor 60 Jahren gesehen wird, liegt in der zeitgeschichtlich sich weiter entwickelnden Betrachtung begründet, trifft nicht Ince!) Auch die naturalistische Schilderung von durch die US-Truppen ausgeübten Massakern, Brutalitäten und Greueltaten an den Indianern ist keine durch den Italo-Westem aufgekommene Erfindung oder Zu- rechtrückung, sondern war schon häufiges Thema der frühesten amerikanischen Indianerfilme; daß im Wilden Westen der Sadismus keine unbeträchtliche Rolle spielte, beweisen manche dieser uralten Filme ganz deutlich — so 1925 eine sehr realistische Auspeitschung in Tom Mix’ „Riders of the Purple Sage“ (beides wurde erst durch den „Hays- Code“, 1927 bzw. 1930 „ausgemerzt“!). Die kunstvolle — damals selbstverständlich noch schwarzweiße — Photographie der Landschaft dokumentiert die grandlos-lyrischen Außenaufnahmen in Maurice Toumeurs „Last of the Mohicans“, 1920. Die heute so beliebten Westernparodien und Lustspiele finden ihre hervorragenden Vorläufer in den Filmen von Douglas Fairbanks „Manhattan Madness“, 1916, „Wild and Woolly“, 1917, und Mary Pickford („M’liss“, 1918) — und die größte Überraschung ist die Entdeckung des wegen seiner späteren Filme so (zu Recht) geschmähten Cecil B. De Mille als Regisseur ebenso künstlerisch wie tiefenpsychologisch durchdachter, unerhört moderner Werke, wie „The Vir- ginian“, 1914, und vor allem „The Romance of the Redwoods“, 1917, mit einer darstellerischen Meisterleistung von Mary Pickford…

Von seinen Anfängen, dem Archewestern „The Great Train Robbery“ Edisons, 1903 von Edwin S. Porter inszeniert (getreullchst von Edmund Lubin 1904 Szene für Szene kopiert), über die kurzen Meisterwerke von Ince und Griffith (der mit seinem Western „The Battle of Elderbush Gulch“ 1913 eine Vorstufe zu seinem Klassiker „The Birth of a Nation“ lieferte) und die klassischen Cowboy- und Westemhelden „Broncho Billy“ Anderson (geboren 1882, mehr als 400 Filme zwischen 1908 und 1920), William S. Hart (1870 bis 1946) und

Tom Mix (1880 bis 1940, mehr als 370 Filme zwischen 1910 und 1934) sowie Harry Carey, Yakima Canutt, Hoot Gibson, Texas Guinan, Jack Hoxie, Buck Jones, Ken Maynard, Buddy Roosevelt und viele andere bis zu den beiden Westemklassikem „The Covered Waggon“, 1923, von James Cruze und „The Iron Horse“, 1924, von John Ford zog sich der bunte Bogen der Vorführungen stummer amerikanischer Western — die zu genießen und in entspannter, fast urlaubshafter Ruhe mitzuerleben die vorbildliche Veranstaltung in Grado Gelegenheit gab; daß „Nevada“ mit Gary Cooper (1927) und der Tonfilm „Cimarron“ von Wesley Ruggles, 1931, als zwei sympathische Zugaben gezeigt wurden und Sergio Leone als nicht minder sympathischer Gast anwesend war (und immerhin in einer

Pressekonferenz sogar noch manches Neue über sich und seine Arbeit zu sagen wußte), setzte dieser liebenswerten Filmwoche zusätzliche Lichter auf.

Grado, bereits von deutschen Touristen entvölkert, zeigte noch am letzten Tag sein strahlendstes Sonnengesicht— während in den Hotels schon Teller und Bestecke verpackt, Geschäfte geschlossen und Straßen und Corso leer wurden. Bis zum nächsten Frühling, bis zur nächsten Saison breitet sich nun winterliche Ruhe aus, Häuser und Hotelpaläste bleiben dunkel und scheinen zu schlafen. Nur am Hafen treffen sich einige der wenigen verbliebenen Einwohner, endlich ganz allein unter sich, erzählen von den vergangenen Verrücktheiten der Ausländer — und träumen von der nächsten Saison…

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