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Wildschütz in Tiuccia

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Tiuccia: das sind zwölf gelbscheckige Häuser am blausilbemen Golf von Sagone, einige Kilometer nördlich von Ajaccio. An Korsikas Westküste gibt es viele Buchten, sienabraune, grüne, rosenfarbene, graue, gelbe und purpurne. Der Golf von Sagone ist blau.

Tiuccia: das ist nebenbei auch ein Wirtshaus mit einer Terrasse, mit genau vier Gästezimmern und mit schrägen Steinstufen, die zwischen Myrthe, Lorbeer und Rhododendron zum weißen Sandstrand und zum Meere führen, das hier bemüht ist, homerisch, nämlich veilchenfarben zu sein.

Samstag In Tiuccia. Und morgen ist Sonntag.

Der Wirt vollzog die klassische französische Geste, breitete die Arme aus und hob die Schultern: „Sonntagsmesse? Wer kann das sagen! Vielleicht um 10 Uhr, vielleicht um 11 Uhr. Es kommt darauf an, wann der Pfarrer vom Wildem heimkehrt. Manchmal Ziemlich blutverschmiert. Am besten, Sie halten morgen Ausschau, denn irgendwie und irgendwo Anden Sie ihn ganz gewiß. Aber lassen Sie sich Zeit, Monsieur, hier eilt es nicht."

Es eilte nicht. Der Sonntagmorgen kam ßammend hell und winddurchweht, die Maccchia blühte und war erfüllt von Vogelstimmen, das Meer war veilchenfarben, Tiuccia gelb- scheckig. Ich startete den Wagen und begab mich ins Ungefähre. Anderswo verwirren hysterische Hennen den Autofahrer, hier sind es melancholisch sanfte Esel oder auch hurtige Schlangen, die den Asphalt als Fluchtweg benützen.

Des Fahrzeugs hätte es keineswegs bedurft, denn nach hundert Metern schon holte ich eine abenteuerliche Gestalt in schwarzer Sutane ein, die unveAneidliche Baskenmütze auf dem schmalen Kopf. „Mon pere …“ Er stutzte, und ich fragte nach der Sonntagsmesse. Der kleine, sehr drahtige Mann wandte sich um. Über einer schmalen Hakennase blitzten dunkle Augen aus seinem lederbraunen Gesicht. „Aber es kommt ja keiner.“ Patfse. „Wenn Sie es wollen, so lese ich die Messe für Sie allein. Einverstanden? Gut. Kommen Sie, sobald Sie die Glocke hören. Bis dahin.“

Das Tor des winzigen Gotteshauses stand weit offen, der Pfarrer von Tiuccia war damit beschäftigt, Sand. Kies und Kerzenreste schwungvoll hinauszukehren. Ich nahm ihm den Besen ab. „Sie?“ Er war ehrlich er-

staunt. „Nicht doch, Sie sind Gast. Genug, genug. Verzeihen Sie“, schrie er. „Diese Säue, meine Pfarrkinder! Wochentags zünden sie Kerzen an für den heiligen Johannes, sonntags haben sie zu tun, und der Pfarrer kehrt die Kirche aus. Hören Sie auf und schauen Sie sich die Fresken an, was halten Sie davon?“

Jetzt erst sah ich, was ich mit gebeugtem Rücken nicht hatte sehen können: die Wände des sonst kahlen Raumes strahlten in ffirrenden Farben, Figuren traten hervor oder zergingen in Abstraktion. Explodierende Genialität und stümperhaftes Nicht-weiter-wissen standen übergangslos nebeneinander. Das Leben Johannes des Täufers: Zacharias und der Engel, Heimsuchung, ein halbwüchsiger Johannes in der Wüste, die Taufe im Jordan, das Gastmahl des Herodes, Salome tanzte und war durchaus nicht abstrakt, die Enthauptung. „Ein Junger?“ fragte ich. „Ja“, schrie der Pfarrer von Tiuccia. „Ich ließ ihn drauflosmahlen. Eines Tages kam Malraux, der Minister, und sah das. Der Junge erhielt einen Rom-Preis des Ministeriums, und wie es weiterging, weiß ich nicht. Malraux, der muß doch etwas davon verstehen —?“

„Das ist anzunehmen“, lachte ich. Der Pfarrer von Tiuccia packte mich ‘an der Schulter und schob mich zur Tür hinaus. „Kommen Sie, jetzt rauchen wir, und dann geht’s los.“

Eine Dame aus Paris hatte sich eingefunden, ihr Haar war kupferfarben. Wir saßen zu drift, auf einer

Steinschwelle, ich sog an meiner Zigarette, der Pfarrer von Tiuccia an seiner Pfeife, die kupferfarbene Dame lächelte sanft. „Man sollte nochmals läuten“, sagte sie. „Vielleicht entschließt sich noch jemand.“ — „Keiner kommt“, sagte der Pfarrer von Tiuccia. „Am Johannestag, zu Weihnachten, zu Ostern kommen sie. Sonntags nie.“ — „Vielleicht ließen sie sich erziehen, mit der Zeit…“, sagte die Dame mit sanfter Altstimme. Der Pfarrer von Tiuccia antwortete nicht, aber seine Geste sagte: Oh Unschuld!

Dann sah er mich an und schrie ohne Übergang: „Wissen Sie, daß ich viermal durchgebrannt bin? Viermal. Warum ich das erzähle? Ich sollte es nicht erzählen, es ist sehr lange her. Spada, der letzte Bandit, war mein Freund, und ich ging zu ihm. Spada war ein Glanzstück. Als er spürte, daß es mit ihm zu Ende ging, kam er zu mir und bat um die Lossprechung. Dann Verschwand er in die Berge. Man fand ihn später, schon ziemlich verwest, das Gewehr zur Seite, das Kruziüx an den Lippen.“ Er sprang auf, klopfte die Pfeife aus und schrie: „Fertig. Es geht los!“ Und dann riß er tatsächlich am Glockenstrang, aber nicht in der irrigen Meinung, daß eines seiner Pfarrkinder (dieser Bande) auf den Fischerbooten, in den Ställen, Küchen, Weingärten oder irgendwo in der Macchia, darauf achten könnte, sondern um der Schöpfung den Sonntag zu verkünden. Bevor er die Altarstufen hinanstürmte, wandte er sich um und lieh sich meine Lesebrille aus. „Verlangen Sie das Ding zurück, sonst stehle ich es am Ende. — Au nom du Pėrė et du Fils et du Saint Esprit…“

Das Latein des Kanons war vertrauter und leichter zu verstehen als das korsisch ratternde Französisch zu Beginn der Messe. Das Tempo blieb atemberaubend, aber jedes Wort war scharf artikuliert, sinngemäß betont und bewußt gesprochen. Vor der Wandlung hielt er sekundenlang inne. Dann sagte er, langsam, jambisch betont, frohlockend: „Hoc est — enim — corpus — meum.“

Kein kommandiertes Gemeinschaftserlebnis, keine beffissene Betulichkeit, nur: das Unbeschreibliche war hier getan. Die Hostie lag, weiß und makellos, in den braunen Händen des Wildschützen und einstigen Banditen.

Später wurde ich des unbändigen Lebens gewahr, das mit glühender Sonne und kühlem Wind durch die offene Tür ohne Unterlaß ins Gotteshaus hereinffutete. Zahllose Vogelstimmen erfüllten den Raum, leises Verzischen des freundlichen Meeres auf dem fernen Sand und zugleich der herrische, bezwingende Duft aus der blühenden Macchia. Ich erschrak. Denn der kleine braune Mann am Altar hatte, als nun das Opfer dargebracht war, zu singen begonnen, rauh, wild und begeistert. Er sang korsisch, und ich verstand lediglich, daß dies eine Lobpreisung war, ein hymnischer Dank an den Schöpfer, der das Leben erdacht, der durch Sein Wort die Welt aus dem Nichts befohlen hatte, diese Welt mit ihren großen Wundem, ihrem Dreck, ihrem Licht, ihrem Schmerz, ihren Schrecknissen und ihrer Schönheit. Der nicht perfekte Apparaturen, Organisationen und manipulierbare Gemeinschaften, nach vorgefertigter Standardschablone gewollt und gerufen hatte, sondern Menschen, verschieden, einzeln und jeden auf seine Art. Damit das Leben unerschöpflich sei, unübersehbar, uneinholbar und nicht dem gleichförmigen Tode ähnlich.

Wieder saßen wir rauchend auf der heißen Steinschwelle. Auch die kupferfarbene Dame aus Paris hatte keine Eile. Der Golf von Sagone war blau und silbern, und der Pfarrer von Tiuccia erzählte. „Als ich jung war und Seminarist, stand ich eines Tages vor Pius XI. — Jemand sagte dem Papst: .Dieser kommt aus Korsika.“ — ,Wie alt bist du?’ fragte der Papst. .Dreiundzwanzig*, sagte ich. Der Papst lachte und zog mich an der schwarzen Strähne, die mir damals ins Gesicht hing.“ Er riß die Baskenmütze vom Schädel, und eine graue Haarwelle entrollte sich von der linken Schläfe herab bis zur Schulter. „Die Strähne ist grau geworden. Ich nehme sie ins Grab mit. Der Papst hat sie berührt. Pius XI. war ein großer Papst. Heute tun unsere Theologen so, als wüßten sie nichts von ihm. .Quadragesimo anno?“ sagen sie, ,nie gehört davon..* Dafür fällt ihnen täglich etwas Neues ein. Sie glauben hingebungsvoll an Äußerlichkeiten und Details. Ein wahres Glück übrigens, daß dem so ist. Es lenkt sie ab. Details! Wohin käme ich mit Details, hier, mit diesen Leuten, in dieser Gegend! Ich muß Zusehen, daß sie wenigstens die Kinder taufen lassen, daß sie heiraten und daß sie halbwegs christlich sterben. Und dann wird von oben her angeordnet, wir mögen die Sutane ablegen. Ich ohne Sutane! Was bin ich dann noch in den Augen meiner Landsleute? Ein Wildschütz, sonst nichts."

Im Wirtshaus, beim Apėritiv, wußten die Leute zahllose Geschichten über den Pfarrer von Tiuccia, und eine der schönsten ist diese:

Daß er ihr Wild abschoß, vor allem die sakrosankten Rebhühner, war den Bewohnern aller vier von ihm betreuten Dörfer zuviel geworden, und eines Tages riß allen gleichzeitig die Geduld. Die Bürgermeister be- kalgten sich beim Bischof von Ajaccio. Der Bischof ließ den Pfarrer von Tiuccia kommen.

„Wie ist das mit den Rebhühnern?“ fragte Exzellenz.

„Verleumdung!“ schrie der Pfarrer von Tiuccia. „Rebhühner nie!“ „Schwöre“, sagte Exzellenz.

„Wozu?“ fragte der Pfarrer von Tiuccia. „Besser wäre es gewesen, dieser Bande, meinen Pfarrkindem, beizubringen, sie mögen nicht falsches Zeugnis gehen wider ihren Nächsten.“

„Verschwinde“, sagte Exzellenz. Über die Haupttreppe der bischöflichen Residenz begab sich der Pfarrer von Tiuccia geraden Weges hinab zur Küche. Dort raffte er mit Anstand seine Sutane, holte zwei Rebhühner hervor und legte sie auf den Tisch.

„Bereiten Sie das Seiner Exzellenz", sagte er. „Es ist eine Überraschung." Dann verschwand er, zu Fuß, über den Col de San Bastiano.

Zeichnungen: Susanne Thaler

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