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Wilsons Purzelbäume

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Lauter Jubel begrüßte im britischen Unterhaus die Ankündigung, daß die Abstimmung über das weitere Verbleiben Großbritanniens in der EG mit einer Mehrheit von 226 Stimmen für Europa ausgegangen war; mehr als doppelt so viele Abgeordnete sprachen diesmal ihr Ja zur britischen Mitgliedschaft als bei der letzten diesbezüglichen Unterhausabstimmung im Jahre 1971. Die Frage war damals die gleiche, aber die Rollen der Fragesteller waren vertauscht — oder nicht — oder doch?

1971 hatten der damalige Oppositionsführer Harold Wilson eine nahezu geschlossene Labourpartei hinter sich, die sich gegen den Beitritt Großbritanniens zur EG aussprach, zumindest unter den Bedingungen, die zuvor von Der Regierung Heath ausgehandelt worden waren.

Aber politische Spiegelfechterei ist immer viel einfacher, wenn man in der Oppositon ist, wenn man nur kritisieren und attackieren kann, ohne sich konstruktiv mit den politischen Realitäten auseinandersetzen zu müssen. Nachdem dem britischen Verhandlungsteam unter Außenminister Callaghan der unbestreitbare Erfolg gelungen war, bessere Beitrittsbedingungen für Größbritannien zu erreichen, tat die Labourregierung unter Premierministei Wilson das Selbstverständliche und einzig Mögliche: sie empfahl den: Parlament, für die fortgesetzte Mitgliedschaft Großbritanniens bei dei EG zu stimmen. Wirklich die Labourregierung? Nun, nicht weniger als sieben Kabinettsminister und 31 (einunddreißig) weitere Ministe] und Regierungsmitglieder stimmtet gegen den Antrag; insgesamt warer es 145 Labourabgeordnete, die der politischen Purzelbäumen ihres Parteichefs nicht zu folgen vermochter

und ihre Stimme gegen Europa abgaben, 32 enthielten sich der Stimme, und nur 138 stimmten mit Ja. Mit einem Wort, Premierminister Wilson gewann diese entscheidende Europaabstimmung als Führer einer Dreiparteienkoalition, in der eine überwältigende konservative Mehrheit gegeben war.

Die gegenwärtige Situation Harold Wilsons ist gefährlich und verworren, wenn man sie nicht sogar als verzweifelt bezeichnen könnte. Nicht nur ist seine Parlamentsfraktion tief gespalten, auch der mit der Labourpartei organisch verbundene Gewerkschaftsverband ist gegen seine Europapolitik eingestellt, und bei der für Ende April geplanten Sonderkonferenz der Labourpartei wird der Exekutivausschuß der Partei diese Europapolitik fast ganz sicher ebenfalls ablehnen.

Aber es wird noch viel Wasser durch die Themse rinnen bis zur Apotheose der gesamtbritischen Europadebatte, bis zur Volksbefra-

gung also, die inzwischen auf den 5. Juni angesetzt wurde. Die anlaufende öffentliche Kampagne wird Zusammenstöße zwischen Kabinettsministern bringen, die aber trotz ihrer unterschiedlichen Einstellung zur EG die täglichen Regierungsgeschäfte doch zusammen weiterführen müssen. Ob der Genossengeist des Labourideals diese tiefen Gegensätze überbrücken, die schweren persönlichen und politischen Spannungen ausreichend lindern kann, um das jetzige Labourkabinett vor dem Verlust seiner fähigsten Mitglieder zu bewahren, das werden die nächsten Wochen zeigen.

Und was wird das britische Volk zu alledem sagen, beziehungsweise welche Folgen wird das Volksabstimmungsresultat haben? Das Parlament ist jetzt auf den Weg nach Europa festgelegt. Sollte das Referendum ein Nein zu Europa ergeben, so bedeutet das durchaus nicht, daß das Parlament dann seine jetzige Meinung ändern müßte, dazu ist es verfassungsmäßig in keiner Weise gezwungen, schon gar nicht dann, wenn es, wie viele voraussagen, beim Referendum nur zu einer relativ geringen Beteiligung kommen sollte. Aber eine Konfrontation der Wählerschaft mit dem Parlament würde eine für Großbritannien noch nie dagewesene Verfassungskrise bedeuten, die fast unweigerlich zur Parlamentsauflösung und zur Ausschreibung von Neuwahlen führen müßte. Und selbsl das wäre unter Umständen keine wirkliche Lösung, denn bei Neuwahlen würde heute, allen Meinungsforschungsinstituten zufolge, eine konservative Regierung ans Ruder kommen, und damit eir Parlament, das noch mehr als das jetzige das Verbleiben Großbritanniens in der EG unterstützt.

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