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Wir alle sind Seelsorger(innen)

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Vieles ist aufgebrochen und viele haben sich provozieren lassen, sich mutig und selbstbewußt auf den Weg zu machen. So könnte wohl rückblik-kend die pastorale Situation nach dem II. Vatikanum auch in Österreich umschrieben werden. Der Aufbruch kam in Gang! Die Einladung zu mehr Mündigkeit, Verantwortungsübernah-me, Initiativfreudigkeit und Risikobereitschaft wurde überraschend breit angenommen. Begeisterung und Hoffnung konnten über den Bereich der sogenannten Insider hinaus geweckt und vertieft werden.

Wo aber stehen wir heute? Immer häufiger stoße ich in meiner Tätigkeit als Seelsorger und Theologe auf Enttäuschung, Verwundung, Resignation, Verbitterung und Angst. Daß wir innerkirchlich in einer Umbruchsituation stehen, wird kaum bestritten. Immer häufiger aber wird die Frage artikuliert, ob wir noch im Aufbruch sind oder nicht schon längst der nachvatikanische Weg der Hoffnung von Abbruch gekennzeichnet ist.

In der Tat ist der durch das II. Vatikanum eingeleitete Aufbruch in der römisch-katholischen Kirche an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt, der vor die Entscheidung stallt, das Erreichte als Ziel abzusichern oder als Basis für die nächste Etappe der Erneuerungsbewegung anzusehen. Vieles deutet daraufhin, daß sich so manche aus Sehnsucht nach „Ruhe" für das Absichern entscheiden. Die Ekklesiologie des II. Vatikanums hat in der Theorie ein Kirchenbild gezeichnet, dessen Verwirklichung in der pastoralen Praxis einen Umbruch verlangt, der die Kräfte mancher zu überfordern scheint, Angst produziert und zum Abbruch des Aufbruchs verführt.

Die angesprochene Spannung kommt in der alltäglichen Seelsorgearbeit voll zum Ausdruck. Viele Menschen haben es satt, sich als „Objekte" versorgen zu lassen und haben Sehnsucht nach Lebensbegleitung aus einem farbenfrohen Glauben. Viele im pilgernden Gottesvolk sind mündig genug geworden, um grenzenlose Kompetenzansprüche und automatische Autoritätseinforderung gehörig in Frage zu stellen. Das sich abzeichnende Ende eines überzogenen patriarchalischen Systems trägt zur Beschleunigung dieser Entwicklung bei. Wen wundert es, wenn einige auf diesem Hintergrund nach Disziplinierung und einem „Zurück" in die „gute alte Zeit" rufen?

Ich habe in eigener harter Grenzerfahrung des Leids und in der Begleitung vieler Menschen in Grenzsituationen (vor allem in der Begleitung Sterbender) gelernt, daß zu den faszinierendsten Fähigkeiten des Menschen das Los-lassen gehört. Nicht zufällig sprechen auch die biblischen Texte mit Nachdruck diese menschliche Dimension an: Wer sterben (=Ioslassen) kann, wird leben! Alte Wege neu zu gehen ist eben zu wenig!

Trägerin der Seelsorge ist das Volk Gottes. Deshalb sind wir alle Seelsorgerinnen und Seelsorger! Dies verlangt, daß wir Gott alles und deshalb auch uns sehr viel zutrauen dürfen. Das wiederum kann uns in eine echte Geschwisterlichkeit führen, in eine neue Form von Partnerschaft, in der die Unterscheidung von Dienst und Machtherrlichkeit, von Begeisterung und Fanatismus, von Treue und Sturheit ehrlich aufgezeigt werden kann.

So viele Menschen fragen heute bewegt nach Sinn, so viele Ausgegrenzte warten auf Einladung, so v iele Menschen in Leid, Not, Krankheit oder Trauer erhoffen sich wärmende Zuwendung, so viele möchten bewußter, befreiter, heilvoller und erfüllender leben. Rezepte, Verordnungen, Vorschriften und vorgefertigte Ratschläge bieten da wenig Wegweisung oder Hilfestellung.

Gefragt sind Menschen, die sich selber mitteilen. Ersehnt werden Menschen, die andere an ihrer Lebensund Glaubensgeschichte Anteil nehmen lassen. Das ist jene begleitende Seelsorge, wo nicht Strategien, Systeme und Strukturen im Vordergrund stehen, sondern wo Gottes Zusage, daß er gekommen ist, um zu heilen, was verwundet ist, hautnah und persönlich erlebt wird. So führt echter und ursprünglich gelebter Glaube in die Weite gelingenden Lebens. Vom strafenden, drohenden und rächenden Gott, so betonen viele, hätten sie (zu) vieles gehört. Deshalb sehnt sich das Herz so vieler, dem zärtlichen, lebens-spendenden und grenzenlos liebenden Gott zu begegnen.

Mir fällt auf, daß Seelsorgerinnen diesen Zugang im Sinn von Ganzheit und Befreiung oft viel mutiger und stärker erschließen können, als Männer in der Seelsorge es wagen. Denken wir in diesem Zusammenhang nur daran, welch fruchtbare und zunächst für viele unvorstellbare Erneuerung im Religionsunterricht begann, als auch Frauen in diesen pastoralen Dienst gegangen sind. Oder betrachten wir die segensvolle Bereicherung, die in der Pfarrseelsorge und in der kategorialen Pastoral durch die Pastoralassistentinnen (in Ergänzung zur wertvollen Arbeit ihrer Kollegen) unverzichtbar gewachsen ist!

Wie viel an Reichtum an Lebens-und Glaubenskraft liegt da vor uns, wenn diese Wege konsequent und mutig weitergegangen werden! Wie viele Verwundungen würden unterbleiben, wie viele Energien könnten zur Heilung investiert und wie viel Weg weisung dürften der Gesellschaft von morgen angeboten werden, wenn die Freude auf das Neue die Angst vor dem Neuen ablösen könnte!

Die Zukunft verlangt eine Pastoral der breiten Basis, eine Pastoral der neuen Offenheit auf Gott, den Menschen und die Schöpfung hin, eine konfliktoffene, risikofreudige, prophetisch spannungsgeladene, biblisch durchwirkte und spirituell lebendige Pastoral, eine Pastoral der Vielfall und Originalität und des dauernden Exodus in das Morgen hinein. Es ist der Geist Gottes, der zu diesem Exodus in ein neues Morgen ruft und dorthin begleitet, der Mut zum Aufbruch und Begeisterung zum Durchhalten schenkt.

Wir alle sind Seelsorger(innen)! Das heißt, jede und jeder von uns ist Iebens-und glaubenskompetent! Dies befähigt uns für eine neue geschwisterliche Partnerschaft, in der wir einander wechselseitig stützen, gemeinsam suchen und miteinander leben und glauben lernen - und das täglich neu. Univ.Doz. Dr. Franz Schmalz isl Direktor des Rcligionspädagogischen Instituts der Diözese St. Pölten. Dieser Tage erseheint sein neuestes Bueh „Lebensbeglcilung aus dem Glauben. Wir alle sind Seelsoraeiinnen" (Tyrolia-Verlag. öS I28.-K

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