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„Wir haben keine Angst vor der Wahrheit“

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Die Stunde der österreichischen Geschichtsschreibung wird nicht nur die Stunde der Wahrheit sein, sondern vor allem: die Stunde einer Befreiung von der Geschichte. Heinrich von Srbik spricht in seinem erst nach seinem Tode vollends herausgekommenen Werk „Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart“ von den Versäumnissen an der österreichischen Geschichte. Er selbst nennt viele Ursachen solcher Versäumnisse; Versäumnisse, die ihrerseits für Österreich schicksalhaft, geschichtlich wirksam wurden und deren Zahl sich seit dem Tode des Altmeisters der Geschichtswissenschaft (1951) um ein beträchtliches vermehrt haben.

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Die Stunde der österreichischen Geschichtsschreibung wird nicht nur die Stunde der Wahrheit sein, sondern vor allem: die Stunde einer Befreiung von der Geschichte. Heinrich von Srbik spricht in seinem erst nach seinem Tode vollends herausgekommenen Werk „Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart“ von den Versäumnissen an der österreichischen Geschichte. Er selbst nennt viele Ursachen solcher Versäumnisse; Versäumnisse, die ihrerseits für Österreich schicksalhaft, geschichtlich wirksam wurden und deren Zahl sich seit dem Tode des Altmeisters der Geschichtswissenschaft (1951) um ein beträchtliches vermehrt haben.

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Der politische Mensch, der sich um den Zugang zur Geschichte bemüht, wird in diesem Zusammenhang vor allem den Vorwurf verstehen, der sich auf die Erfahrung bezieht, daß man hierzulande eine politische Tatsachenforschung mehr und mehr vermied, um sich einem „philosophierenden Positivismus“ zuzuwenden. Die Ursprünge dieser Fehlhaltung sind in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu suchen, als in Österreich der Hėrbartsėhen Schule, weit über dem öffentlichen Unterricht hinaus, der Vorrang gegenüber der von der Reihe Fichte, Schelling und Hegel genährten Denkrichtung gegeben wurde. Damiteinmal begonnen, sahen sie jene Epigonen gerechtfertigt, die sich in der Zeit der wachsenden Erschütterung der Habsburgermonarchie durch die Kräfte der nationalen und sozialen Revolution vorsichtig aus dem Bereich der Zonen politischer Entscheidungen zurückzogen. Die Zahl der nie fertiggestellten Gesamtdarstellungen der österreichischen Geschichte ist — wohl auch aus dem eben genannten Grund — recht groß.

Indessen bekam die österreichische Geschichtsforschung schon im Augenblick der Geburt den Keim dieses unheimlichen Leidens. Das in der Ära des Reformators der österreichischen Hochschulen, Leo Graf Thun-Hohenstein (1849 bis 1860), entstandene „‘Institut für österreichische Geschichtsforschung“ erreichte, wie Otto Brunner 1938 mit

voller Berechtigung feststellte, seine Leistung nicht auf dem Gebiet, auf dem es zuerst zur Leistung berufen wurde: Auf dem Gebiet der Erforschung und Darstellung der öster-

reichischen Geschichte. Hievon erwartete sich der alte Staat: Staatsbewußtsein auf Grund von Geschichtsbewußtsein. Der 1919 vollzogene Wechsel des Namens in: „österreichisches Institut für Geschichtsforschung“, war nicht erst nach dem soeben stattgehabten Tod des Staates, dem das Institut die erwartete Bewußtseinserhöhung schuldig blieb, sondern längst vorher überfällig. Daß die Monarchie 1857 dieses Institut dem Theodor Siekei in die Hand gab, einem Emissär der

48er-Revolution in ‘ Deutschland, Frankreich und Italien, hinter dem bei seiner Berufung nach Wien sozusagen noch die Feldpolizei Radetzkys her war, mag angesichts heutiger Praktiken ein schöner Beweis liberaler Kulturpolitik des Staates sein. Aber Siekei war in allem tätig, nur nicht in dem, was Österreich hinsichtlich der Erforschung und Darstellung seiner Geschichte von dem Institut erwarten mußte.

Mangels eines echten Fixpunktes mußte die oben erwähnte Haltung

eine zentrifugale Wirkung haben. Der beginnende Durchbruch der nationalen Revolution wirkte nach zwei Seiten: Einerseits in der Scheu vor einem konsequenten Eingehen auf die „Deutsche Frage“, so wie sie sich den Österreichern nach 1866 bot; und anderseits der Scheu vor Gegenaktionen der „anderen“ Nationalitäten, deren Streit untereinander und mit dem Staat niemand forcieren mochte, es sei denn, er war auf das rein Politische des Unternehmens aus. So wenig es im multinational empire ein Institut für Nationalitätenrecht oder für vergleichende Nationalitätenforschung gab, so wenig fand hier die fällige Auseinandersetzung mit der jenseits der Grenzen mächtig ins Kraut schießenden preußisch-kleindeutschen Geschichtsschreibung statt. So geriet der österreichische großdeutsche Standpunkt in Verengungen, während österreichische Blickpunkte einer eher polemisch oder apologetisch gedachten Darstellung überlassen blieben. Aus- den Konfrontationen national-österreichisch, freiheitlich-zentralistisch, föderalistischklerikal-hochkonservativ usw. erwuchs ein Polygon inhomogener Elemente, dem als Resultate die geschichtliche Gattung jenes Deutsch- Österreichertums abging, das bis 1918 staatstragend war und blieb. Die Wiener, die ihre Landsleute aus den umliegenden Kronländern gerne die „Gscherten“ nannten, hätten sich gehütet, derartiges jenen entgegenzuhalten, die man jetzt die „Sudetendeutschen“ nennt. Dynastie und Hochadel standen in einem Sanktissimum, genannt „Haus Österreich“, das aber bereits in spürbare Gegensätze zu liberalen, konservativen, zentralistischen, föderalistischen, bürgerlichen, sozialistischen usw. Parteiungen geriet; Fraktionen, die sich mehr und mehr angewöhnen, von „ihrem“ Staat, von „ihrer“ Vorstellung vom Volk, von „ihrer“ nationalen Idee Usw. zu reden und dafür „ihre“ sektiererische Geschichtsauffassung zu reklamieren.

Und: Die nationale Idee bekamen alle Nationen und Nationalitäten von den Hochschulen des multinational empire geliefert. In dem Maße, in dem dieser Vorgang in die Übersteigerung: national, Nationalismus, Nationalsozialismus geriet, bedeutete dies das wachsende Disengagement

vieler Historiker, die ihre „Freiheit der Wissenschaft“ nicht mit der „Freiheit der Meinungsäußerung“ im politischen Tageskampf vertauschen wollten. So wie heute in kommunistisch regierten Staaten die Itelligenz in die Beschäftigung mit den Naturwissenschaften ausweicht, wichen viele Historiker in Österreich in die Erforschung und Darstellung möglichst weit zurückliegender Epochen aus, wo in der Tat erstaunliche Leistungen und Komplettierungen geschahen. Dieses Ausweichen aber hatte seine Folgen im Geschichtsunterricht an den Schulen, wo schon um 1850 ein Landesschulinspektor feststellte, die Geschichtslehrer beließen es lieber bei der Apotheose der Sieger im Befreiungskampf 1809 bis 1815, als in die Nähe von Daten um 1848 heranzukommen. Nichts Neues gibt es unter der Sonne.

Daß nach 1945 die Dinge erst recht unter Verschluß genommen wurden, ist bereits gesagt. Die Besatzungsmächte durchstöberten verlagerte Archivbestände und lieferten ihren Partisanen im österreichischen Parteienkampf zusagende Gustostückeri. So jener amerikanische Universitätsprofessor, der 1949 aus Bergen von Akten den Briefwechsel Mussolini— Dollfuß hervorzerrte und ihn der politischen Publizistik einer Partei überließ. Dazu kam, daß jedes der „Elemente“ des Erziehungsdirektoriums des Alliierten Kontrollrates ein fertiges Elaborat „seiner“ österreichischen Geschichtsausfassung in

Händen hatte; einer Geschichtsauffassung, die noch mehr russisch-, britisch- oder französisch-national nicht gedacht werden könnte.

Die in der nun schon legendären österreichischen Koalition aus 1945 verbündeten politischen Kräfte des Landes taten die Vergangenheit wohl nicht ab; reklamierten angesichts näherliegender materieller Sorgen sie nicht für ihre Geschichtsauffassung, für die eigene Fraktion; sondern schlossen betreffs dieser Vergangenheit ein pactum de non petendo. Vielleicht wird man einmal die im Dezember 1960 in Reichenau, Niederösterreich, stattgefundene Expertentagung: österreichische Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, als den Anlaß bezeichnen, bei dem ein Tabu gebrochen wurde. Mit seinem Vortrag: Vom Zerfall der Monarchie bis zum Staatsvertrag von St. Germain lieferte Hugo Hantsch eines der Fittings, deren es bedurfte und bedarf, um die letzte Schdü der Österreicher vor ihrer Geschichte zu überwinden.

Das in den sechziger Jahren stattgehabte Revival des Historischen Materialismus hat nicht die erwartete Stunde Null eines neuen Geschichtsbewußtseins eröffnet oder das Continuum unterbrochen. Es war Herausforderung, wenn auch vielfach in dem Sinne: Nein, so nicht noch einmal.

Den Österreichern erging es erst 1945 so, wie es den Franzosen schon nach 1848 ergangen war: Sie waren schon zuviel gewesen. So viel, wie um 1848 Hippolyte Taine es sah, um in seiner späteren Vorrede zu „Origines de la France contemporaine“ zum Bekenntnis einer politischen Leere zu gelangen. Dem ist entgegenzuhalten: Der Vergangenheit muß ins Antlitz geblickt werden; die Vergangenheit muß auf gedankliche

Probleme zurückgeführt werden; diese Probleme müssen durch Aussagen gelöst werden. Dies, so schließt Benedetto Croce, ist Voraussetzung für die neue Tat und für das neue Leben.

Überflüssig, noch zu sagen, daß all das nicht nur die politischen Staatengeschichte angeht. Zumal auf dem Höhepunkt einer neuen Welle des Rationalismus sichtbar wird, was Hugo von Hofmannsthal von dem Geist des österreichischen sagt: In seiner Musik sei Österreich zuerst Geist geworden. Und in dieser Form hätte es die Welt erobert. Bleibt noch das Hauptwort „Musik“ zu ersetzen mit dem Eigenschaftswort „musisch“. Und dieses Wort „musisch“ im Sinne Franz Werfels in Verbindung zu bringen mit „Mensch“. Gemeint ist jener musische Mensch“, in dem allein die Heilung der durch den reinen Sachglauben zerstörten Innerlichkeit stattflnden kann.

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