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,Wir lassen uns nicht im stillen begraben!6

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Der Roman „Die sieben Tage der Schöpfung“ des russischen Schriftstellers Wladimir Maximow ist 1972 im Westen weltberühmt geworden. Er wurde in der Bundesrepublik in russischer Sprache publiziert, seither folgten Ausgaben in sieben Sprachen in Europa, Asien und Amerika. Der Roman schildert das Leben einer durchschnittlichen sowjetischen Proletarierfamilie, die während dem Nach-Oktober-Regime unter verschiedensten Bedingungen ihr Leben fristet. In literarischen Kreisen errang das Werk in Kürze eine immense Popularität, da der Autor sich als ein seriöser Denker und tiefer Psychologe entpuppt hat, der mit der Sprache auf einem nicht alltäglichen künstlerischen Niveau umzugehen weiß. Nun gibt es das Buch auch auf deutsch.

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Der Roman „Die sieben Tage der Schöpfung“ des russischen Schriftstellers Wladimir Maximow ist 1972 im Westen weltberühmt geworden. Er wurde in der Bundesrepublik in russischer Sprache publiziert, seither folgten Ausgaben in sieben Sprachen in Europa, Asien und Amerika. Der Roman schildert das Leben einer durchschnittlichen sowjetischen Proletarierfamilie, die während dem Nach-Oktober-Regime unter verschiedensten Bedingungen ihr Leben fristet. In literarischen Kreisen errang das Werk in Kürze eine immense Popularität, da der Autor sich als ein seriöser Denker und tiefer Psychologe entpuppt hat, der mit der Sprache auf einem nicht alltäglichen künstlerischen Niveau umzugehen weiß. Nun gibt es das Buch auch auf deutsch.

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Der Abkömmling einer typischen russischen Arbeiterfamilie, Wladimir Maximow, hatte keine leichte Kindheit gehabt. Als zwölfjähriger Bub wanderte er in Bußland von Stadt zu Stadt wie ein kleiner Tramp, der die Nächte auf Eisenbahnstationen verbrachte oder auf dem Dachboden eines muffigen Hauses in Georgien. Einen Bissen Brot zu ergattern war schon schwer! Früh verlor er seine Mutter, und das Schicksal des kleinen russischen

Dickens-Helden wurde noch düsterer. Früh mußte er mit der schrecklichen Atmosphäre der Kinder-zwangsarbeiterlager Bekanntschaft machen. Ganz jung mußte er als Maurer und Gipsarbeiter sein karges Brot verdienen. Der schicksalhafte Zufall verschlug ihn nach dem Polargebiet in die Diamantenminen zu Tajmerskij, in das frostige Chaos von Igarka, wo er von der Welt abgeschnitten war. Er hat auch in Osetia im Kaukasus gelebt, wanderte am Wolga-Ufer entlang bei Kazan, verweilte eine Zeitlang in Kirgisistan, an Übersetzungen arbeitend.

Maximow schloß vor ein paar Jahren einen Kontrakt mit einem Moskauer Verlagshaus ab, das sich zur Veröffentlichung seines Romans: „Die sieben Tage der Schöpfung“ verpflichtet hat. Er bekam einen Vorschuß, das fertige Buch wurde jedoch nicht publiziert. Und nicht genug damit. Weil sein Werk im Ausland Erfolg hatte, wurde seine Strangulation beschlossen, das heißt sein Name zusammen mit Sol-schenizyn und Galich, die von dem Schriftstellerverband ausgeschlossen wurden, in die Liste der „gefährlichen Übermittler der bürgerlichen Ideologie“ eingetragen. Seither haben ihn, den 42jährigen mutigen Literaten, die verschiedensten Kulturverantwortlichen und Literaturgendarmen auf Parteiversammlungen unzählige Male angegriffen.

Maximow war 24 Jahre alt, als der erste Band mit seinen Gedichten in der UdSSR veröffentlicht wurde. Anfang der sechziger Jahre kam seine erste längere Story: „Wir machen uns selbst die Erde zum Heim“ heraus, in Moskau spielte man seine Theaterstücke, unter anderem im Puschkin-Theater. Vor zwei Jahren erschien der erste Band seiner Prosawerke in Moskau.

Der Roman „Die sieben Tage der Schöpfung“ ist nicht nur für Maximow ein Markstein, sondern für die moderne russische Literatur, denn niemand hat so brillant den Alltag, das religiöse und intellektuelle Leben in Rußland reproduziert. Im übrigen wandert Maximow hellseherisch auf dem Pfad, der von

Pasternak, Solschenizyn und Sin-jawski markiert wurde.

Russische Mitglieder der sowjetischen „Bürgerrechtsbewegung“, die zur Zeit im italienischen Exil leben, erhielten kürzlich alarmierende Kachrichten aus der Sowjetunion über die Situation Maximows. Der Vertreter seiner Interessen im Westen, Juri Glazow, sagte vor kurzem: „Ich glaube, daß das Leben Maximows jetzt in großer Gefahr ist... Die Behörden sind bereit, mit ihm etwas zu machen. Ich appelliere an die Literaten im Westen, die Bitte zu unterstützen, daß Maximow erlaubt wird, Rußland zu verlassen.“ — Eine Gruppe italienischer Schriftsteller hat bereits bei Breschnjew interveniert. Unter den Petitionisten befinden sich auch Ignazio Silone, Stephen Spencer, Iris Murdoch, V. S. Pritchett und Günter Graß!

In den Augen der sowjetischen Literaturapparatschiks ist Maximows Sünde viel größer als die seiner Vorgänger, weil Pasternak, Solschenizyn und Sinjawski die Vergangenheit geschildert haben, Maximow hingegen gewagt hat, das Leben im „modernen Rußland“ wahrheitsgemäß und ungeschminkt darzustellen.

Seine Schwester, die gegenwärtig in Israel lebt, hat bereits alle notwendigen Papiere samt bestätigter Einladung zur Emigration nach Moskau geschickt. Westliche Proteste würden eine willkommene Unterstützung für Maximow in Moskau bedeuten. Glazow schrieb wörtlich: „Es ist ein kritischer Moment! Die Behörden zögern noch: sollen sie ihn verhaften und in ein Irrenhaus stecken oder emigrieren lassen. Sie können ihn auch liquidieren.“

„Die sieben Tage der Schöpfung“ ist ein merkwürdiger Sowjetroman, in dem die Historie der Familie Laschkow analysiert wird, deren sämtliche Mitglieder Arbeiter sind und die ihr Lebensdrama voller Erniedrigungen und Hoffnungen erleben. Manche von ihnen bleiben in Bitterkeit stecken, andere machen eine spirituelle Wandlung durch. Alkoholismus ist die größte Gefahr im heutigen Sowjetleben. Oft klingt ein religiöser Uberton durch: „Nur der Glaube, irrelevant welcher, kann den Mann schützen, der ein hartes Leben hat.“ Mehrere Mitglieder der Laschkow-Familie sind Ausgestoßene, sie müssen im kalten Norden arbeiten, wo sie einen jungen Mann namens Osia treffen, der Maurer geworden ist und lange Zeit an> riesigen Mauern gebaut hat. Erst später erfuhr er, daß er an einem Gefängnisbau gearbeitet hatte.

Als Maximow hörte, daß die Moskauer Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands zusammen mit der Sektion Prosa seinen obenerwähnten Roman zur Diskussion stellte, schrieb er einen Brief, in welchem er auf die erwartenden „Beschuldigungen und Konklusionen“ hinwies, worüber er sich keine Illusionen machte. In seiner Schrift gibt es Sätze wie die nachfolgenden:

„Ich brauche mich vor Ihnen nicht zu rechtfertigen, und ich bedaure nichts. Ich bin der Sohn und der Enkel von erblichen Proletariern. Ich stamme aus der Arbeiterklasse und schrieb ein Buch über das dramatische Finale der Sache, für die mein Vater und mein Großvater sowie ein Großteil meiner Familie ihr Leben geopfert hatten. Für mich ist dieses Buch das Resultat von Reflexionen vieler Jahre der Unterdrückung im modernen Rußland und der bittersten persönlichen Erfahrungen ... Wenn Sie allein sein werden mit sich selbst und in das Gesicht der Realität mit Mut und ohne Vorurteil blicken, so werden Sie — ich bin sicher — mit der selben Reihe von ,Warums' konfrontiert, die mir im Laufe der Arbeit an diesem Roman vorkamen. Warum ist in diesem Land, wo der Sozialismus siegreich war, der Alkoholismus eine nationale Tragödie geworden?“

Dann schreibt Maximow über „pathologischen Nationalismus“, „Indifferenz“ und „Korruption“. Er beteuert, daß er dem Volk helfen möchte, sich von derartigen „negativen Phänomenen zu befreien“ und beruft sich auf „ältere Vorgänger vom Dudintsew bis Solschenizyn“.

„Dies ist nicht die Zeit für ein herausforderndes Benehmen, ich will die Organisation verlassen, deren Mitglied ich zehn Jahre lang war, mit einem Gefühl der Bitterkeit und der Verlegenheit. In dieser Organisation waren und gibt es noch Mitglieder, die früher oder später dieselbe schwere Wahl treffen müssen... Es gibt junge Menschen, die uns folgen werden, ... sie werden es nicht dulden, daß ihre Nation im Stillen begraben wird, dessen unge-ichtet, wie eifrig daran alle Typen und Schattierungen der spirituellen Sargmacher arbeiten.“

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